sozial-Recht

Bundesverwaltungsgericht

Flüchtlingshilfe vor Ort kann Abschiebung nach Ungarn begründen




Bundesverwaltungsgericht in Leipzig
epd-bild/Jens Schulze
Effektive Unterstützungsleistungen kirchlicher und nicht staatlicher Organisationen an Flüchtlinge können die Abschiebung in einen anderen EU-Mitgliedstaat begründen. Das gilt zumindest dann, wenn die dortige Hilfe eine "extreme materielle Not" verhindert, urteilte das Bundesverwaltungsgericht.

Leipzig (epd). Eine „extreme materielle Not“ verhindernde Vor-Ort-Flüchtlingshilfe nicht-staatlicher und kirchlicher Organisationen kann die Abschiebung in einen anderen EU-Mitgliedstaat begründen. Gibt es dauerhaft und effektiv Hilfen, die die elementarsten Bedürfnisse in einem EU-Land befriedigen, liegt keine der Abschiebung entgegenstehende „erniedrigende und unmenschliche Behandlung“ vor, entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig in einem am 20. Januar veröffentlichten Urteil.

Damit dürfen deutsche Behörden ein aus Afghanistan stammendes kinderloses Ehepaar nach Ungarn abschieben. Das Paar hatte dort bereits im Januar 2018 subsidiären Flüchtlingsschutz erhalten. Wegen der dortigen schlechten Lebensbedingungen reisten sie jedoch nach Deutschland weiter.

Den in Deutschland gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als unzulässig ab. Das Ehepaar habe bereits in Ungarn Schutz gefunden, argumentierte die Behörde.

Behörde sah Paar in Ungarn sicher untergebracht

Das Verwaltungsgericht Frankfurt/Oder billigte die angedrohte Abschiebung. Zwar sei bei einer zu erwartenden „erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung“ eine Abschiebung unzulässig, etwa wenn Flüchtlinge in dem jeweiligen EU-Mitgliedstaat extreme materielle Not erleiden würden. Das sei aber gegenwärtig in Ungarn nicht der Fall. Denn dort würden nicht staatliche und kirchliche Organisationen Flüchtlinge dauerhaft effektiv unterstützen und fehlende staatliche Hilfen teilweise kompensieren, befand das Gericht.

Die afghanischen Kläger seien zudem jung und arbeitsfähig und könnten sogar von Deutschland aus ihre Rückführung nach Ungarn vorbereiten, indem sie die Hilfsorganisationen um Unterstützung bitten. Zu den gewährten Hilfen zählten etwa eine finanzielle Unterstützung, Hilfen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche oder beim Erlernen der Sprache.

EU-Recht gewährt keine Wahl des Zufluchtslandes

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte nun diese Entscheidung. Könnten Flüchtlinge durch eigene Arbeitskraft oder mit der Inanspruchnahme von Hilfen nicht staatlicher Organisationen „hinreichend“ überleben, sei eine Abschiebung zulässig. „Aus Völker- oder Unionsrecht folgt kein Recht auf Wahl des Zufluchtslandes“, heißt es weiter in dem Urteil.

Es gebe nach der Grundrechtecharta auch keine ausdrückliche Verpflichtung des aufnehmenden Staates, den Lebensunterhalt international Schutzberechtigter durch eigene Leistungen wie Unterkunft und Befriedigung elementarster Bedürfnisse zu sichern. Nur bei Vorliegen einer „Situation extremer materieller Not“ könne eine verbotene erniedrigende und unmenschliche Behandlung vorliegen, so das Bundesverwaltungsgericht mit Verweis auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 19. März 2019.

Abschiebung trotz „Mängeln im Sozialsystem“

„Mängel im Sozialsystem“ stünden einer Rückführung noch nicht entgegen, so das Luxemburger Urteil. Flüchtlingen sei nach einer Rückführung daher selbst „große Armut“ zumutbar. Erst eine „Lage extremer materieller Not“ schließe die Abschiebung aus. Die Schwelle hierfür werde erst überschritten, wenn Flüchtlinge ihre elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen können. Dazu gehöre insbesondere, „sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden“.

Wann eine Lage extremer materieller Not zu erwarten ist, hängt von den individuellen Bedingungen eines Flüchtlings ab. So hatte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit Beschluss vom 29. August 2017 entschieden, dass eine aus Syrien stammende alleinerziehende Mutter von vier Kindern ohne eine sichere Unterkunft nicht nach Bulgarien abgeschoben werden darf. Fürchten besonders schutzbedürftige Flüchtlinge bei einer Abschiebung Obdachlosigkeit, müssten Gerichte dem auf den Grund gehen und unter Umständen auf die Abschiebung verzichten, entschied das Gericht.

Mögliche Obdachlosigkeit muss geprüft werden

Im vorliegenden Fall habe sich das Verwaltungsgericht Minden gar nicht mit der begründeten Befürchtung der Frau auseinandergesetzt, dass sie im Fall einer Abschiebung nach Bulgarien mit ihren vier Kindern obdachlos werde, rügte das Bundesverfassungsgericht.

Diese Frage zu klären, hatte auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg mit Urteil vom 4. November 2014 im Fall eines afghanischen Ehepaares und sechs Kindern gefordert. Die Familie war von Italien in die Schweiz geflohen. Die Schweizer Behörden lehnten ihren Asylantrag ab, weil die Kläger bereits in Italien sicher gewesen seien.

Doch bei einer Rückführung nach Italien gebe es die begründete Befürchtung, dass sie in der Obdachlosigkeit landen, urteilte damals der EGMR. Vor einer Abschiebung müsse die Schweiz daher sicherstellen, dass für die Asylbewerber eine angemessene Unterkunft bereitsteht und dass die Familie beisammenbleiben kann.

Das Bundesverfassungsgericht entschied zudem am 8. Mai 2017, dass Gerichte und Behörden bei Anhaltspunkten für eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in einem EU-Mitgliedstaat dem nachgehen müssen. Im konkreten Fall eines von Griechenland nach Deutschland weitergereisten syrischen Flüchtlings müsse sichergestellt werden, dass ihm bei einer Rückführung zumindest für die erste Zeit nach der Ankunft in Griechenland „Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen“ gewährt wird. Das sei hier nicht geprüft worden, so die Karlsruher Richter.

Az.: 1 C 3.21 (Bundesverwaltungsgericht Flüchtlingshilfe)

Az.: C-163/17; C-297/17 und weitere (EuGH)

Az.: 2 BvR 863/17 (Bundesverfassungsgericht Bulgarien)

Az.: 29217/12 (EGMR)

Az.: 2 BvR 157/17 (Bundesverfassungsgericht Griechenland)

Frank Leth