Bonn (epd). Derzeit ist der Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig, bleibt aber unter der Voraussetzung einer psychosozialen Beratung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei. „Dieser einmalige Kompromiss, der beiden Seiten etwas abverlangt, sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden“, sagte der Bundesvorsitzende von donum vitae, Olaf Tyllack, im epd-Interview. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Die neue Bundesregierung will Änderungen im Bereich der Schwangerschaftskonfliktberatung und beim Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Wird da womöglich ohne Not ein zwar umstrittener, gleichwohl bewährter Kompromiss gefährdet?
Olaf Tyllack: Wir halten den 1995 geschlossenen Kompromiss für den bestmöglichen Weg, um der ethischen, rechtlichen und psychosozialen Dimension eines Schwangerschaftskonfliktes gerecht zu werden. Im Ergebnis hat der Kompromiss, dass der Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig, aber unter der Voraussetzung der psychosozialen Beratung bis zur 12. Woche straffrei bleibt, zu einer tragfähigen Praxis beigetragen. Dieser einmalige Kompromiss, der beiden Seiten etwas abverlangt, sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Im Übrigen muss man differenzieren: Wären sich die Koalitionsparteien in dieser Frage bereits einig, hätten sie vermutlich nicht erst eine Kommission angekündigt, die Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches prüfen soll.
epd: Eine Petition, die im November an Bundestagsabgeordnete übergeben wurde, fand 110.000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner. Die Forderung: eine vollständige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und eine rechtliche Regelung außerhalb des Strafgesetzbuches. Wie kommentieren Sie diesen Wunsch?
Tyllack: Die im Strafgesetzbuch verankerte Regelung zur Beratung im Schwangerschaftskonflikt dient gleichermaßen dem ungeborenen Leben und der schwangeren Frau, während in der Petition ausschließlich die Perspektive der ungewollt schwangeren Frau und der Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten, eingenommen wird. Und anders als in der Petition dargestellt, wird durch die Beratungsregelung eine Kriminalisierung von Frauen, die sich nach der Beratung für einen Abbruch entscheiden, gerade verhindert. Ich sehe keine andere Lösung, da der Staat eine Schutzpflicht auch für das ungeborene Kind hat, der er durch die verpflichtende psychosoziale Beratung nachkommt. Erst so kann der Schwangerschaftskonflikt von beiden Seiten betrachtet und dem ungeborenen Kind in der Beratung eine Stimme verliehen werden.
epd: Schwangerschaftsabbrüche gelten in Deutschland schon seit über 150 Jahren als Straftat. Ist es nicht doch nötig, hier zu anderen, vielleicht auch zeitgemäßeren Lösungen zu kommen?
Tyllack: Die gesetzliche Regelung war in dieser langen Zeit immer wieder in der Diskussion und wurde schon mehrfach reformiert. Immer war die gefundene Regelung auch ein Ausdruck der jeweiligen Zeit. Ich halte das Schutzkonzept des Staates, das auf Hilfe statt auf Strafe setzt, nach wie vor für zeitgemäß. Es stärkt die Frau in ihrer verantworteten Entscheidung. Ein straffreier Schwangerschaftsabbruch mit adäquater medizinischer Versorgung und Nachbetreuung gewährleistet das Recht der Frau auf körperliche Unversehrtheit. Dieses Recht der Frau steht aber nicht über dem Recht des ungeborenen Kindes auf Leben und Unversehrtheit - die psychosoziale Beratung eröffnet die Chance, dass auch diese Stimme zu Wort kommt.
epd: Dagegen gibt es aber offenkundig auch Widerspruch.
Tyllack: In der Tat sehen manche als Gradmesser des Zeitgemäßen beim Thema Schwangerschaftsabbruch ausschließlich die reproduktive Selbstbestimmung der Frau. Ob der Deutsche Bundestag tatsächlich mehrheitlich diese Meinung teilt, erscheint mir aber durchaus offen. Für mich ist jedenfalls offenkundig, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn es in der Linie seiner bisherigen Rechtsprechung bleibt, einen solchen Weg nicht billigen könnte. Und wohl kaum jemand würde auf die Idee kommen, dass das in unserem Grundgesetz niedergelegte Gebot des wirksamen Schutzes der Menschenwürde und des Rechts auf Leben nicht mehr zeitgemäß wäre.
epd: Den Reformaufruf unterstützen immerhin 172 verschiedene Organisationen. Liegen die wirklich alle falsch?
Tyllack: Viele der 172 Organisationen setzen sich ausdrücklich und in erster Linie für die Rechte von Frauen ein. Beim Schwangerschaftsabbruch handelt es sich aber nicht ausschließlich und auch nicht in erster Linie um ein gleichstellungspolitisches Thema. Daher reicht es nicht aus, nur die Seite zu hören und zu berücksichtigen, die aktuell eine Änderung des geltenden Rechts anstrebt, auch wenn sie ihr Anliegen lautstark mit vielen unterstützenden Stimmen vorträgt. Donum vitae und viele andere, gerade auch kirchliche Organisationen versuchen, eine solche Polarisierung zu vermeiden und nehmen neben dem Selbstbestimmungsrecht der Frau auch das ungeborene Leben in den Blick.
epd: Das angekündigte Reformvorhaben gleicht der Quadratur des Kreises, sind doch zwei Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen: der Schutz des ungeborenen Lebens und der Zugang zu freier, legaler und sicherer Abtreibung. Wie soll das funktionieren?
Tyllack: Nach meiner Überzeugung wird man den beiden Rechtsgütern Lebensschutz und Selbstbestimmung nur durch einen Kompromiss gerecht, wie ihn das geltende Recht darstellt. Mit einem jeden Kompromiss sind immer auch Zugeständnisse verbunden. Es ist eine wichtige demokratische Qualität, für tragfähige Konfliktlösungen bei hochstrittigen Themen kompromissfähig zu sein, auch wenn man sich von seinem persönlichen Standpunkt eine klarere Lösung gewünscht hätte. Ohne diese Kompromissfähigkeit hätte es die seit über 25 Jahren geltende Regelung nicht geben können.
epd: Die Ampel-Parteien wollen den Paragrafen 219a aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Er untersagt Ärztinnen und Ärzten, Informationen über Schwangerschaftsabbrüche öffentlich zur Verfügung zu stellen. Minister Buschmann nennt die Regelung „absurd“. Was sagen Sie?
Tyllack: Ich halte die Regelung nicht für absurd, sondern für angemessen. In der Tat ist sie erklärungsbedürftig: Menschliches Leben verdient einen hohen und wirksamen Schutz - in diesem Sinne regelt § 219a StGB das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Weil der Abbruch einer Schwangerschaft von der Rechtsordnung grundsätzlich abgelehnt wird, sollen Ärztinnen und Ärzte ihn nicht gleichwertig in einer Reihe mit anderen von ihnen angebotenen Leistungen darstellen. Zugleich muss aber in jedem Fall gewährleistet sein, dass ungewollt schwangere Frauen Zugang haben zu allen relevanten Informationen ebenso wie zu Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Auch die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte muss rechtssicher erfolgen können.
epd: Kritiker sagen, es gebe keine hinreichende Informationen.
Tyllack: Die Information der Frauen über alle Aspekte eines Schwangerschaftsabbruchs ist insbesondere über die flächendeckend zugängliche Konfliktberatung gewährleistet, außerdem natürlich auch über das vor einem Abbruch erforderliche ärztliche Aufklärungsgespräch. Weitere Maßnahmen, zum Beispiel eine über die Bundesärztekammer öffentlich zugängliche Liste von Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, wurden mit der erst 2019 erfolgten Reform des § 219a beschlossen und umgesetzt. Dieser Reform ist eine mehrjährige intensive Diskussion vorausgegangen, und auch hier wurde unter vielen Mühen ein nach meiner Einschätzung sinnvoller Kompromiss gefunden. Mit der Umsetzung sind erkennbar noch nicht alle zufrieden. Aber die neue Bundesregierung sollte sich mehr Zeit nehmen, um zu einer Bewertung der Maßnahmen zu kommen, statt als erstes den mühsam errungenen Kompromiss zu verwerfen.
epd: Die Union und auch die großen Kirchen warnen vor neuen rechtlichen Regelungen. Die CDU/CSU sieht bei einer Abschaffung des Werbeverbots „die Gefahr, dass Informationen und Geschäftsinteressen vermischt werden“. Ist das wirklich zu befürchten und damit das Kernargument gegen Reformen?
Tyllack: Diese Gefahr ist sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Doch für mich ist das Kernargument, wie oben dargelegt, die mit einer Streichung des Werbeverbots verbundene Umwertung.
epd: Sehen Sie die Gefahr eines Dammbruches, dass nach dem Paragrafen 219a auch der Paragraf 218, der Abtreibungen unter Strafe stellt, fallen könnte?
Tyllack: Es gibt bei vielen die Befürchtung eines Domino-Effekts. Doch von der angekündigten Prüfung einer alternativen Regelung außerhalb des Strafrechts erwarte ich angesichts der klaren Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes für einen effektiven Schutz des ungeborenen Lebens kein Signal für einen Systemwechsel.
epd: Was macht Sie da so sicher?
Tyllack: Ich bin überzeugt, dass auch in den Regierungsparteien genau zwischen den einzelnen Fragen unterschieden wird. Mein Eindruck ist, dass eine Abschaffung des Werbeverbots gesellschaftlich leichter zu vermitteln ist. Das ist bei der geltenden Beratungsregelung anders. Für eine Änderung sehe ich weder eine gesellschaftliche noch eine politische Mehrheit. Wer sich für eine Änderung dieser Regelung einsetzt, muss auch erklären, wie die doppelte Anwaltschaft für die schwangere Frau und das ungeborene Leben in einer alternativen gesetzlichen Regelung sichergestellt werden soll. Viele Frauen sind ausgesprochen dankbar für die Beratung, die ihnen im Schwangerschaftskonflikt Orientierung ermöglicht und Grundlage für eine informierte und gewissenhafte Entscheidung ist.