München (epd). Manchmal gewinnen trübe Gedanken die Oberhand. Patrick Maier kennt das. Wenn er abgrundtief traurig ist. Einfach so. „Ich leide unter chronischer Verstimmung“, sagt der 47-Jährige. Die Diagnose „Dysthymie“, so der Fachbegriff für langanhaltende depressive Verstimmungen, erhielt er nach einem seelischen Zusammenbruch. Jetzt ist der Münchner dabei, sich mit Hilfe des Modellprojekts „Gemeindepsychiatrische Basisversorgung“ wieder zu stabilisieren.
Seinen Verstimmungen nachzugeben, war für Patrick Maier früher ein absolutes Tabu. Er wollte funktionieren. Und fuhr als selbstständiger Unternehmensberater jede Menge berufliche Erfolge ein. „Doch alles war immer unglaublich anstrengend.“
Nach seinem Zusammenbruch Anfang 2020 ging allerdings für ihn nichts mehr. „Ich hatte überhaupt keine Möglichkeit mehr zu agieren“, erzählt er. Seine Hausärztin sorgte dafür, dass ihr Patient in die Psychiatrie kam. Dort erhielt er die Diagnosen „Chronische Verstimmung“ und „Chronische Depression“.
Der Münchner wurde durch seine Erkrankung aus seinem alten Leben geschleudert. Er landete in der Welt von Menschen mit psychischer Erkrankung. Wer diese Welt nicht kennt, für den erscheint sie wie ein verwirrendes Labyrinth. Das Modellprojekt „Gemeindepsychiatrische Basisversorgung“ will Patienten durch dieses Labyrinth lotsen.
In dem Projekt erhält Maier seit knapp zwei Jahren Hilfe. Die Sozialarbeiterin Tanja Tücking von der gemeinnützigen Gesellschaft „Vincentro München“ ist seine Bezugsbetreuerin. Ihre Aufgabe ist es, für ihn und seine Fragen und Probleme da zu sein. „Wir sehen uns mindestens einmal in der Woche, ich kann aber auch außerhalb unserer Treffen immer anrufen, wenn etwas ist“, sagt Maier. Also etwa wenn ihn die Depressionen übermannen.
Psychisch Kranke müssen oft alle Kräfte für die Bewältigung ihres Alltags mobilisieren. Das geht auch Patrick Maier so. Deshalb sei er unglaublich dankbar, dass es in dem Projekt „darum geht, dass wir im Alltag gestärkt werden mit dem Ziel, nicht mehr in die Klinik zu müssen“. Patrick Maier macht unter anderem eine Traumatherapie, die ihm Tanja Tücking vermittelte. Nach seinem Aufenthalt in der Psychiatrie half ihm Tücking, eine geeignete Rehaklinik zu finden. Da er durch seine Erkrankung in finanzielle Turbulenzen geriet, wandte er sich außerdem an die Schuldnerberatung.
Das Projekt „Gemeindepsychiatrische Basisversorgung“ startete im Juli 2019 und läuft bis Juni 2023 an zwölf Standorten in Deutschland. Insgesamt 19 Krankenkassen und Leistungserbringer beteiligen sich daran. Forscher der Universität Ulm begleiten das Projekt wissenschaftlich. Ziel ist es, die Gemeindepsychiatrische Basisversorgung fest in der Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung zu etablieren.
Damit soll eine Versorgungslücke geschlossen werden und Defizite in der Betreuung von psychisch Kranken beseitigt werden. So mangelt es unter anderem an intensiven ambulanten Hilfen. Ein besonders großes Problem stellt die Fragmentierung des Versorgungssystems dar. Denn Behandlungs- und Betreuungsleistungen sind auf unterschiedliche Sozialleistungsträger mit getrennten Vergütungssystemen aufgeteilt.
Stefanie Mäurer (Name geändert) ist ebenfalls Patientin im Projekt Gemeindepsychiatrische Basisversorgung. „Ultrawichtig ist für mich, dass es ein Krisentelefon gibt“, sagt die 34-Jährige. Es ist rund um die Uhr erreichbar: „Dass es dieses Telefon gibt, hat mich schon vor schlimmsten Krisen bewahrt“. Ohne die Gemeindepsychiatrische Basisversorgung, glaubt sie, wäre sie längst wieder in einer Klinik für Psychiatrie gelandet. Doch die Betreuung in der Gemeindepsychiatrischen Basisversorgung ermöglicht es ihr, in einer WG in München zu wohnen und ihrer Arbeit in einem Call-Center nachzugehen.
Anett Keidel, die bei „Pinel Netzwerk“ in Berlin Menschen in psychischen Krisen unterstützt, übt grundsätzliche Kritik an der Versorgung von seelisch Kranken in Deutschland: „Wir haben Klienten, die sich schon lange irgendwie durchgewurschtelt haben, aber nie die richtige Hilfe bekamen.“ Statt Hilfe für ihre unterschiedlichen Probleme aus einer Hand zu bekommen, müssten sich psychisch Kranke sehr oft in einem Wirrwarr potenzieller Ansprechpartner zurechtfinden: Jobcenter, Rentenversicherung, Jugendämter, Krankenversicherungen, Ärzte, Sozialpsychiatrische Dienste, Ergotherapeuten und Tageskliniken.
Bei der Gemeindepsychiatrischen Basisversorgung sei das anders, sagt Nils Greve. Es gehe hier nicht allein um Krankheitssymptome, „sondern vielmehr darum, den Menschen zu einem eigenverantwortlichen Leben zu verhelfen“, sagt der Vorsitzende des Dachverbandes Gemeindepsychiatrie mit Sitz in Köln.
Eine möglichst vollumfängliche Teilhabe an der Gesellschaft ist das Ziel. „Wobei neben den Bedürfnissen der psychisch erkrankten Menschen auch die Bedürfnisse seiner Angehörigen eine große Rolle spielen“, erklärt Greve. Als seine Bezugsbetreuerin unterstützt Tanja Tücking daher Patrick Maier darin, ein offenes Gespräch mit ausgewählten Personen seines sozialen Umfeldes zu führen. Diese sollen nämlich verstehen, warum er sich manchmal länger nicht bei ihnen meldet. „Ich wiederum möchte wissen, wie mein Schweigen für sie ist“, sagt Maier.