Frankfurt a.M. (epd). Heike Herold gibt sich zuversichtlich, was die künftige Regierung angeht - obwohl im Sondierungspapier kein Wort über die Frauenhäuser zu finden ist. „Das muss noch nichts bedeuten. Am Ende ist ja entscheidend, ob der Koalitionsvertrag dazu konkrete Aussagen enthält. Wir sind da recht optimistisch“, sagt die Geschäftsführerin des Dachverbandes der Frauenhäuser. Das Thema Gewaltschutz sei in einer der Arbeitsgruppen behandelt worden: „Es ist also auf der Agenda.“ Die Fragen an Herold stellte Dirk Baas.
epd sozial: Vor 45 Jahren, im November 1976, öffnete in Berlin das erste Frauenhaus. In welcher Lage befanden sich damals Frauen, die vor häuslicher Gewalt fliehen mussten?
Heike Herold: In Westdeutschland standen Frauen vor gewaltigen Problemen. Sie hatten im Vergleich zu heute deutlich eingeschränkte Rechte. Damals war die Vergewaltigung in der Ehe noch nicht strafbar, es war kein Delikt, das strafrechtlich verfolgt wurde. Öffentliche Angebote zur Hilfe und Beratung, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Partnerschaftliche Gewalt gegen Frauen war in der Öffentlichkeit nicht tabuisiert. Die patriarchalen Strukturen haben sehr gut funktioniert, was auch mit dem christlich geprägten Familienbild dieser Zeit zusammenhing.
epd: Welche Möglichkeiten gab es, durch Flucht zu entkommen?
Herold: Es war extrem schwer, auszubrechen und die Abhängigkeit vom Ehemann zu durchbrechen. Es gab weder Unterstützung von der Polizei noch von Hilfsorganisationen. Beratungsstrukturen für dieses spezifische Feld sozialer Arbeit existierten noch nicht. Frauen waren gezwungen, private Lösungen zu finden. Sie mussten sich selbst eine Bleibe organisieren, vielleicht bei Freunden oder eigenen Verwandten. Gelang das nicht, war es quasi unmöglich, der häuslichen Gewalt zu entkommen. Die Situation war häufig aussichtslos, gerade wenn es auch darum ging, die Kinder mitzunehmen.
epd: Welche Rolle spielte damals die Polizei?
Herold: Polizei und Justiz haben damals Gewalt in der Beziehung als Familienstreitigkeit angesehen. Als interne Konflikte, um die man sich nicht kümmern musste. Bis in die 90er Jahre war es in den Behörden noch üblich, solche Exzesse herunterzuspielen, nicht ernst zu nehmen und natürlich auch nicht rechtlich zu verfolgen. Und sie gingen quasi selbstverständlich davon aus, dass die Opfer eine Mitschuld trugen. Das ist übrigens ein Mythos, der noch immer weitergeschleppt wird. Auch heute passiert es häufig noch, dass Polizei, Justiz oder das private Umfeld der Opfer solche Positionen vertreten.
epd: Wie war die Lage in der DDR?
Herold: Auch dort gab es natürlich häusliche Gewalt, auch hier wurden diese Probleme nicht thematisiert. Solche Gewaltphänomene durfte es in der heilen Welt des Sozialismus offiziell natürlich nicht geben. Aber es gab zwei ganz wesentlich Unterschiede zum Westen: Die allermeisten Frauen waren berufstätig, verdienten selbst Geld und waren so auch unabhängiger von den Ehemännern. Und es war im Vergleich zu den alten Bundesländern auch deutlich leichter, sich scheiden zu lassen. Aber auch die DDR hatte keine professionellen Hilfsangebote.
epd: Warum ist es auch nach Jahrzehnten noch immer nicht gelungen, ausreichende Hilfen für die Gewaltopfer zu etablieren? Mit fehlenden Finanzen allein ist das vermutlich nicht erklärt?
Herold: Da steckt in der Tat ein größeres strukturelles Problem dahinter. Das Thema ist ein unangenehmes, und es geht bei der häuslichen Gewalt immer auch um Machtverhältnisse. Gewalt gegen Frauen hat in der Gesellschaft immer auch die Funktion, bestimmte Herrschaftsverhältnisse zu zementieren oder wiederherzustellen. Wird Gewalt thematisiert und als Problem erkannt, dann stellt sich natürlich zwingend auch die Frage nach den Ursachen. Und dann landet man schnell bei der Ungleichheit der Geschlechter. Man stößt auf Überzeugungen, Gepflogenheiten und Strukturen, die über Jahrhunderte gewachsen sind und die Ungleichstellung der Geschlechter zementieren. Das aufzubrechen, ist eine riesige Aufgabe, die die Frauenbewegung in den 70er Jahren mit Erfolg begonnen hat. Davon profitieren wir heute noch.
epd: Aber die Politik müsste doch längst auf die gewandelte Rechtslage reagiert haben ...
Herold: Ja, das stimmt. Aber oft herrscht leider noch die Sichtweise vor, Frauenhäuser und Beratungsstellen seien ein zusätzlicher Luxus, den sich Länder und Kommunen leisten. Aber, das muss man auch deutlich sagen, seit die Istanbul-Konvention in Kraft getreten ist, verändert sich die Hilfelandschaft. Jetzt ist klar, dass es sich dabei um eine staatliche Pflichtaufgabe handelt und sich die Politik nicht mehr wegducken kann. Aber klar, in diesem Prozess wird natürlich auch auf die finanziellen Mittel geschaut.
epd: Im Sondierungspapier der Ampel-Parteien steht nichts zu der Lage der Frauenhäuser. Das ist kein gutes Zeichen.
Herold: Das muss noch nichts bedeuten. Am Ende ist ja entscheidend, ob der Koalitionsvertrag dazu konkrete Aussagen enthält. Wir sind da recht optimistisch.
epd: Gibt es dazu Anlass?
Herold: Ja, denn wir wissen, dass das Thema Gewaltschutz in einer der Arbeitsgruppen behandelt wird. Es ist also auf der Agenda. Und wir bekommen von dort auch Anfragen, etwa zur Finanzierung von Frauenhäusern und Beratungsstellen. Das deuten wir so, dass sich die Verhandler mit dem Thema tatsächlich befassen. Aber selbst wenn das Thema aufgegriffen wird, ist nicht klar, was am Ende Eingang in den Koalitionsvertrag findet. Was konkrete Aussagen dazu betrifft, herrscht bei uns das Prinzip Hoffnung.
epd: Was sind die größten Probleme, die die neue Bundesregierung lösen muss?
Herold: Unsere erste Forderung ist, eine bundesgesetzliche Grundlage zur Finanzierung der Frauenhäuser und Fachberatungsstellen zu bekommen. Und das müsste gekoppelt werden an einen Rechtsanspruch der betroffenen Personen auf Schutz und fachliche Unterstützung. Das ist keine leichte Aufgabe, sondern eine harte Nuss, die zu knacken ist. Denn eine solche Reform berührt auch die Zuständigkeiten von Ländern und Kommunen. Da muss klar sein, wer welche Aufgaben hat und wer welche Finanzierung übernimmt. Das ist, da machen wir uns gar nichts vor, eine große Herausforderung. Denn man muss es hinbekommen, dass sich alle drei Ebenen einbringen - auch finanziell.
epd: Warum kann man das nicht ohne ein Bundesgesetz regeln?
Herold: Das ist enorm wichtig für uns, vor allem, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu erreichen, wenn es um Schutzeinrichtungen für Frauen geht. Die Frauenhäuser müssen auch bundesweit genutzt werden können. Das heißt, eine Frau, die der Gewalt in Schleswig-Holstein entflieht, muss aus Sicherheitsgründen auch Unterschlupf in Bayern finden können. Das ist heute nahezu ausgeschlossen, weil es hohe Hürden bei der Kostenübernahme gibt. Da sehen wir die Lösung in einem Bundesgesetz. Und wir hoffen natürlich, ganz unabhängig davon, wie die Finanzierung im Detail geregelt wird, dass der Bund sich maßgeblich an den Kosten beteiligt.
epd: Ihnen liegt auch daran, die Gewaltprävention zu verbessern. Was sollte sich da in Zukunft ändern?
Herold: Wir sind noch gar nicht in der Lage, flächendeckend Präventionsarbeit anzubieten. Dazu fehlt zunächst ein Gesamtkonzept gegen Gewalt an Frauen. Und darin müsste auch der wichtige Punkt der Prävention enthalten sein, den auch die Istanbul-Konvention einfordert. Wir können derzeit noch gar nicht in die Prävention einsteigen. Auch auf der staatlichen Ebene passiert da noch zu wenig Koordiniertes. Wir unterstützen die Opfer, und an verschiedenen Stellen werden auch die Täter in die Verantwortung genommen. Auch hier ist die künftige Bundesregierung gefordert.
epd: Wie auch bei der Reform des Familienrechts. Da gibt es seit Jahren Stillstand. Warum ist das so problematisch?
Herold: Das Sorge- und Umgangsrecht von gewalttätigen Vätern ist in seiner jetzigen Form unhaltbar. Dabei geht es darum, dass Frauen, die vom Partner misshandelt wurden, dennoch dessen Umgang mit den Kindern zu fördern haben. Das sieht das Familienrecht so vor. Obwohl diese Frauen Schutzanordnungen nach dem Gewaltschutzgesetz haben. Aus der Beratungspraxis wissen wird, dass es immer wieder zu Gefährdungen oder gar neuen Gewalttaten kommt. Da muss zwingend nachgearbeitet werden. Leider kommt diese Reform des Familienrechtes schon seit Jahren nicht voran, weil sie immer wieder vertagt wurde.
epd: Reden wir über die fehlenden Plätze. Wie groß ist der tatsächliche Bedarf?
Herold: Wir benötigen 14.000 zusätzliche Plätze in den Frauenhäusern, also mehr als doppelt so viele, wie aktuell bereitstehen. Aber der Bedarf verteilt sich sehr unterschiedlich. In den großen Städten, in den Ballungsräumen ist die Nachfrage wesentlich größer als in ländlichen Regionen. Insgesamt braucht es deutlich mehr Plätze. Einige Bundesländern haben immerhin in kleinen Schritten begonnen, das Angebot auszubauen. Das sind Signale, die wir sehr begrüßen. Aber der Ausbau muss natürlich auch einhergehen mit dem Einstellen von mehr Personal. Da hapert es leider oft noch.
epd: Also geht es immerhin langsam voran?
Herold: Ja. Den Ausbau der Schutzeinrichtungen sehe ich gar nicht als unüberwindbares Problem an. Das lässt sich lösen, auch wenn man dafür sicher Jahre braucht. Zumal viele Frauenhäuser baulich nicht mehr den heutigen Anforderungen entsprechen. Das fängt damit an, dass viele Einrichtungen nicht behindertengerecht sind und auch noch nicht für alle Frauen Einzelzimmer und Räume etwa für die Kinder bieten. Das sind nicht selten Bedingungen, die für Frauen und ihre Kinder in extremen Lebenssituationen nicht angemessen sind. Aber noch mal: All das lässt sich lösen. Was uns fehlt, ist eine dauerhafte und ausreichend hohe Finanzierung. Und da wird es schwierig. Gerade was die Personalkosten anbelangt.
epd: Statistiken belegen eine ständige Zunahme von Gewalt gegen Frauen. Reichen dann die heute geforderten erweiterten Platzzahlen in Schutzeinrichtungen künftig überhaupt aus?
Herold: Wissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass nicht unbedingt die Fälle von Gewalt zunehmen, sondern das mehr an Gewalt bekannt wird. Dass sich also mehr Frauen Hilfe suchen. Und dadurch, dass das Thema mehr in der Öffentlichkeit ist, wird auch mehr vom Dunkelfeld aufgedeckt. Es entsteht also der falsche Eindruck, dass Gewalt gegen Frauen ansteigt. In Krisensituationen, wie jüngst im Corona-Lockdown, hat es in bestimmten Konstellationen mehr Gewaltausbrüche gegeben. Aber das sind keine dauerhaften Phänomene.