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Palliativmedizin mit Rucksack und Handventilator




Ärztin Martina Rössler (li.) und Palliative-Care-Fachkraft Carina Hutterer vom Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) des Hospizdiensts "DaSein e.V."
epd-bild/Susanne Schröder
Friedlich zu Hause sterben: Das wünschen sich viele Menschen. Das Angebot der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung macht das möglich. Ein Tag mit einem Palliativteam des Münchner Hospizdiensts "DaSein e.V.".

München (epd). Hubert M. liegt mit halbgeschlossenen Augen auf der Couch. Trotz der Sauerstoffschläuche in seiner Nase atmet er schwer. Ein Teller mit Wurstbroten auf dem niedrigen Tisch ist unberührt. Der 85-Jährige, der Lungenkrebs mit Metastasen in Leber und Milz hat, ist am Vortag von der Palliativstation nach Hause entlassen worden. „Da ging's ihm gut“, sagt sein Schwiegersohn Stefan L. und schüttelt ratlos den Kopf. Jetzt sei dem Schwiegervater ständig übel, er bekomme schlecht Luft und schlafe dauernd. Martina Rössler und Carina Hutterer vom Team der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) des Hospizdiensts „DaSein e.V.“ hören zu. Sie sind da, um Hubert M. zu Hause so zu begleiten, dass das Leiden vor seinem Tod gering und die Lebensqualität möglichst groß ist.

361 SAPV-Teams gibt es nach Angaben des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands (DHPV) deutschlandweit, für rund 126.000 Patienten haben die Krankenkassen im Jahr 2019 den Einsatz der SAPV bewilligt. Im Vergleich dazu begleiten die bundesweit rund 250 stationären Hospize etwa 33.500 Menschen pro Jahr. Allgemein steige die Nachfrage nach Angeboten der Hospizarbeit, sagt der stellvertretende DHPV-Vorsitzende Paul Herrlein. Außerhalb der Ballungsräume gebe es sowohl „bei SAPV und stationären Hospizen noch Lücken“. Der Welthospiztag am 9. Oktober macht jedes Jahr auf die Belange der Hospizarbeit aufmerksam.

Erstbesuch dauert anderthalb Stunden

Im Wohnzimmer von Hubert M. machen sich Rössler und Hutterer routiniert an die Arbeit. Alles, was die beiden dafür brauchen, passt in Rösslers schwarzen Arztrucksack und in die Notfalltasche der Palliative-Care-Fachkraft Hutterer: Ein Stethoskop, ein kleines Ultraschallgerät, ein paar Medikamente, ein Notizblock - und ein batteriebetriebener rosa Handventilator. Wovon sie am meisten mitbringen, ist Erfahrung und Zeit: Rund 90 Minuten investieren sie in einen Erstbesuch wie bei Hubert M. „Wir nehmen uns diese Zeit, weil wir Vertrauen aufbauen wollen und dadurch später auch Zeit und Komplikationen sparen“, sagt Rössler, die seit zwei Jahren Leitende Ärztin des SAPV-Teams von „DaSein“ ist.

Aufgabe der SAPV ist es, neben der medizinischen Versorgung alle Hilfen zu organisieren, die die Patienten in ihrer Situation benötigen: Vom Pflegedienst über Hilfsmittel bis zur Kooperation mit Hausärzten, Apotheken, Physiotherapeuten oder Seelsorgern. Jedes Mitglied der SAPV ist multiprofessionell ausgebildet. Wie wichtig neben dem medizinischen und pflegerischen Know-how die psychosoziale Kompetenz ist, betont DHPV-Funktionär Herrlein: „Es geht ja darum, dass die Menschen trotz der hohen Symptomlast, die bei Weitem nicht nur körperlich ist, zu Hause bis zuletzt leben können.“

Aufklärung Schritt für Schritt

Weil Hubert M. nach einer Spritze gegen Übelkeit bald friedlich auf dem Sofa schnarcht, ist Stefan L. derjenige, dem die Aufmerksamkeit der Palliativexpertinnen gehört. Ist es in Ordnung, dass der Schwiegervater so viel schläft? Kann man Schmerztropfen auch portionsweise abfüllen? Was hilft gegen die Atemnot und die Übelkeit? Wie geht es jetzt weiter? Der Mittfünfziger hat mindestens so viele Fragen, wie Arztbriefe, Krankenkassenschreiben und Beipackzettel vor ihm liegen.

Schritt für Schritt sortieren Rössler und Hutterer die Anliegen und räumen dabei kräftig auf: Statt der störenden Sauerstoffschläuche bekommt M. künftig ein Medikament, das ihn leichter atmen lässt - und der Schwiegersohn den rosa Handventilator. „Wenn der Patient einen Luftzug im Gesicht spürt, ist das Gehirn oft schon beruhigt - und die Atemnot, die viel mit Angst zu tun hat, lässt nach“, erklärt die Ärztin. Palliativmedizin hat nicht nur mit schmerzstillenden Opiaten zu tun, sondern viel mit Tricks wie Duftöl, Sprayfläschchen gegen Mundtrockenheit oder eben der Luftmaschine im Taschenformat.

Konkreter Fahrplan für die nächsten Tage

Aus der Arzneikiste sortiert Rössler ein Drittel der Schachteln aus: Sekretlöser hilft nicht bei Lungenkrebs, und ein Magensäureblocker führt zu Unwohlsein, wenn es gar kein Magenproblem gibt. Stattdessen kommt ein Notfallmedikament für akute Atemnot in die Box. Als das SAPV-Duo nach eineinhalb Stunden die Wohnung verlässt, weiß es viel über die Nöte, Sorgen und Geschichte der Familie - und der pflegende Schwiegersohn hat einen konkreten Fahrplan für die nächsten Tage an der Hand und eine 24-Stunden-Notfallnummer.

Das SAPV-Team von „DaSein e.V.“ ist das kleinste der fünf Münchner Teams. Zu zehnt betreut es derzeit 30 Patienten, die an einer unheilbaren, weit fortgeschrittenen Krankheit leiden. Meist ist das Krebs, aber auch Patienten mit der Nervenkrankheit ALS, Herzerkrankungen oder Demenz im Endstadium sind dabei.

Dass all ihre Patienten in ihrer Obhut sterben, gehört für Rössler und Hutterer dazu. Sie nehme Alltagsdinge oft anders wahr, sagt Hutterer, die schon ihre ganze Berufslaufbahn im Palliativbereich verbracht hat. „Ich lebe bewusster und über manche Kleinigkeiten rege ich mich nicht mehr auf“, sagt die 31-Jährige gelassen. Rössler sagt, ihre Angst vor dem Sterben sei durch die Arbeit kleiner geworden.

Susanne Schröder


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München (epd). Viel Zeit und maßgeschneiderte Hilfe für die Patienten: Das schätzt die Palliativmedizinerin Martina Rössler an ihrer Arbeit in der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV). „In der SAPV schauen wir den ganzen Menschen mit all seinen Problemen an, sei es medizinisch, seelisch oder familiär“, sagt die 50-jährige, die seit zwei Jahren Leitende Ärztin im SAPV-Team des Münchner Hospizdiensts „DaSein e.V.“ ist.

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