Schwei (epd). Rush-Hour im Dorfidyll: Am Rande des 600-Seelen-Ortes Schwei in der niedersächsischen Wesermarsch biegen Autofahrer, Radler und Fußgänger in einen schmalen Weg kurz vor dem Ortsausgang ein. „Arzt“ steht unter dem Straßenschild. Die Menschen heben die Hand zum Gruß, nicken einander freundlich zu: „Moin!“, „Wie geht’s?“. Man kennt sich hier. Alle wollen noch schnell zum „Doktor“ - denn sie wissen: Um elf Uhr schließt Maciej Tomtala seine Sprechstunde. Dann hat er eine Stunde Pause, bevor er zu seinen Hausbesuchen aufbricht.
Vor anderthalb Jahren hat der 49-jährige gebürtige Pole die Praxis von seinem Vorgänger übernommen. Es ist eine Landarztpraxis wie im Bilderbuch. Das reetgedeckte Fachwerkhaus ist von Kastanienbäumen und Birken gesäumt. In einem Bachlauf quaken Frösche, im Garten summen die Bienen. Wer aus den Fenstern des Behandlungsraums blickt, verliert sich im endlosen Grün der Wesermarsch. In der Ferne weiden dicke, braune Kühe, noch weiter entfernt verschwimmen Windräder mit dem blauen Horizont.
Am Nachmittag packt der Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie die Arzttasche und setzt sich ins Auto, um jenen Patienten einen Hausbesuch abzustatten, die nicht mehr zu ihm kommen können. Tomtala liebt sein Leben als Landarzt. Fast 2.000 Patientinnen und Patienten betreut er im Quartal. „Wenn man fleißig ist, kann man gut verdienen“, sagt der begeisterte Segler und Hobbyfotograf.
Tomtalas Enthusiasmus teilen nicht viele seiner Kollegen. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) wird die Zahl der Hausärzte und Hausärztinnen von heute rund 5.000 bis zum Jahr 2035 auf 3.750 sinken. 2004 gab es noch fast 6.000. Besonders betroffen von dem Ärztemangel sind ländliche Gebiete. „Die Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung wird immer schwerer“, sagt der Sprecher der KVN, Detlef Haffke.
Nicht nur in Niedersachsen, in ganz Deutschland ist die Lage gravierend. Eine Studie der Robert-Bosch-Stiftung vom Mai hat ergeben: Fast 40 Prozent der deutschen Landkreise droht bis 2035 eine Unterversorgung mit Hausärzten. Dann würden bundesweit 11.000 Stellen unbesetzt sein. Besonders betroffen seien Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Baden-Württemberg.
Für diese Entwicklung gibt es der Studie zufolge mehrere Gründe: Zum einen gehen viele Hausärzte in den Ruhestand - deutschlandweit sind es fast 30.000. Dieser Verlust kann nicht durch junge Medizinerinnen und Mediziner und durch zugewanderte Ärzte wie Maciej Tomtala kompensiert werden. Zum anderen legen gerade junge Ärztinnen und Ärzte häufig mehr Wert auf die Work-Life-Balance als die Generation vor ihnen. Viele bevorzugen das Angestelltenverhältnis. Sie wünschen sich feste Dienstzeiten, Teilzeitmodelle, pünktlichen Feierabend, und sie wollen in Teams arbeiten und nicht allein eine Praxis verantworten.
Tomtala hat sich bewusst dafür entschieden, auf dem Land in einer eigenen Praxis zu arbeiten. „Ich bin frei, mein eigener Herr. Das ist wunderbar“, sagt er. Anderthalb Jahre war der dreifache Vater Chefarzt in der Helios Klinik Wesermarsch in Nordenham. „So eine Konzernklinik ist nichts für mich“, sagt er. Immer sei es nur um Zahlen und Wirtschaftlichkeit gegangen. „Es gab viel Druck und Stress.“ Die Menschlichkeit sei viel zu kurz gekommen. „Ich möchte Zeit für meine Patienten haben.“
Darüber freut sich die ältere Dame, die heute als erstes auf Tomtalas Hausbesuchsliste steht. Sie lebt auf einem Hof in der Bauernschaft Schweieraußendeich, wenige Kilometer von Tomtalas Praxis entfernt. Sie ist geh- und sehbehindert und froh, dass der Arzt zu ihr nach Hause kommt. „Ich kann ja kein Auto mehr fahren“, sagt sie.
Für den „Onkel Doktor“, wie sie Tomtala liebevoll nennt, hat sie alles vorbereitet. Die Krankenkassenkarte liegt im Wohnzimmer auf dem Couchtisch. Tomtala setzt sich zu ihr, klappt seinen Laptop auf und lächelt. „Wie geht‘s?“, fragt er. „Ich kann nicht klagen“, sagt die Frau. Ihr Blutdruck ist gut. „Den hätte ich auch gern“, scherzt Tomtala und entfernt die Messmanschette von ihrem Oberarm. „Na dann, maak good.“ Die alte Frau lacht. „Der Doktor ist prima“, sagt sie, „der kann sogar schon platt.“
Ein offenes Ohr haben, die richtige Ansprache finden, Zeit für einen Klönschnack: Tomtala weiß, dass das wichtig ist. „Das haben mir meine Arzthelferinnen beigebracht“, sagt er und lacht. Petra Schomaker ist eine von ihnen. Sie hat schon für Tomtalas Vorgänger gearbeitet und kennt manchen Patienten seit 28 Jahren. „Man muss die Leute zu nehmen wissen“, sagt sie. Männer zum Beispiel täten sich oft schwer, zum Arzt zu gehen. „Da kommt dann die Frau und sagt: 'Meinem Hermann geht’s nicht gut'.“
Lösungsvorschläge für den Hausarztmangel auf dem Land gibt es viele: Telemedizin, Gesundheitszentren, mobile Teams, die Landarztquote, die Bewerbern auch ohne Abi-Traumnote das Medizinstudium ermöglicht. Tomtala steht all diesen Vorschlägen aufgeschlossen gegenüber. Aber eines, so sagt er, bleibe das Wichtigste: „Menschlich sein und tolerant. Man muss seinen Beruf und die Patienten mögen.“