Berlin (epd). Innerhalb einer Woche hat der Bundestag Reformen in der Pflege beraten und am 11. Juni in Berlin mit den Stimmen von Union und SPD beschlossen. Im Zentrum stehen Entlastungen für Heimbewohner und bessere Löhne für Altenpflegekräfte. Die Opposition stimmte geschlossen gegen das Gesetz. Linken und Grünen gehen die Verbesserungen nicht weit genug. Es sei höchstens ein „Pflegereförmchen“, sagte die Grünen-Abgeordnete Kordula Schulz-Asche.
Die FDP kritisierte die Pläne aus anderem Grund. Dies sei ein Eingriff in die Tarifautonomie. Auch die AfD lehnte die Einmischung des Staates ab. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dagegen verteidigte die Änderungen. Damit würden wichtige Verbesserungsschritte gegangen, sagte er. Für viele Pflegekräfte werde sich das „in Euro und Cent“ auszahlen.
Von September 2022 an sollen nur noch solche Einrichtungen mit der Pflegekasse abrechnen können, die Tariflöhne, Vergütungen nach dem kirchlichen Arbeitsrecht oder Löhne mindestens in gleicher Höhe bezahlen. Von den rund 1,2 Millionen Pflegekräften werden nur etwa die Hälfte nach Tarif bezahlt. Die Koalition hatte immer wieder eine Verbesserung der Löhne versprochen. Zuletzt war der Weg über einen Flächentarif an den Caritas-Arbeitgebern gescheitert.
Heimbewohner erhalten von 2022 an einen Zuschuss zu ihren seit Jahren steigenden Zuzahlungen. Mit der Dauer des Heimaufenthalts wird der Zuschuss zu dem pflegebedingten Eigenanteil von fünf Prozent im ersten Jahr auf 70 Prozent ab dem vierten Jahr stufenweise angehoben. In der ambulanten Pflege werden die Sachleistungs-Beträge für die Versorgung durch Pflegedienste um fünf Prozent erhöht. Das Pflegegeld für die Betreuung durch Angehörige steigt nicht. Außerdem haben pflegebedürftige Menschen nach einem Krankenhausaufenthalt künftig einen Anspruch darauf, bis zu zehn Tage übergangsweise in der Klinik gepflegt zu werden, wenn kein Kurzzeitpflegeplatz verfügbar oder ein direkter Übergang in eine Pflege zu Hause nicht möglich ist.
Weitere Änderungen sollen den Pflegeberuf attraktiver machen. Dazu zählen mehr Entscheidungsbefugnisse für Pflegekräfte und langfristig Vorgaben für eine ausreichende Personalausstattung. Zur Gegenfinanzierung der steigenden Ausgaben erhält die Pflegeversicherung jährlich einen Bundeszuschuss von einer Milliarde Euro. Weitere 400 Millionen Euro an Einnahmen soll eine Erhöhung des Beitragszuschlags für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkt bringen. Sie zahlen dann 3,4 Prozent ihres Einkommens für die Pflegeversicherung.
Sozial- und Fachverbände übten heftige Kritik an der Finanzierung der Reform. Nach Einschätzung des Spitzenverbandes der Kranken- und Pflegekassen (GKV-Spitzenverband) steuert die Pflegeversicherung auf ein Milliarden-Defizit und Beitragserhöhungen zu. Der Sozialverband VdK erklärte, die Reform sei nicht gegenfinanziert. Die zusätzlichen Kosten würden durch versteckte Leistungskürzungen an anderer Stelle von den Pflegebedürftigen selbst getragen.
Pia Zimmermann, Sprecherin für Pflegepolitik der Links-Fraktion, bezeichnete die Beschlüsse der Bundesregierung als „Augenwischerei“. Menschen würden für ihre möglicherweise unfreiwillige Kinderlosigkeit mit Beitragserhöhungen bestraft und Personen mit Pflegebedarf werde weiterhin in die Tasche gegriffen. Grund sei, dass sich die Bundesregierung „keine grundlegende Finanzierungsreform zutraut“, kritisierte sie.
Rainer Brüderle, Präsident des bpa Arbeitgeberverbandes, spricht von einem „schwarzen Tag für die Pflege in Deutschland, für private Pflegeeinrichtungen und ihre Beschäftigten sowie für die Tarifautonomie“. Weder würden Pflegebedürftige nachhaltig entlastet, noch würden mit der vorgesehenen Tariftreueregelung Gehälter großartig steigen. Wenn Löhne staatlich reguliert und gleichzeitig unternehmerische Risiken und Unternehmenswagnisse missachtet würden, gefährde dies insbesondere die Existenz von kleinen und mittleren Unternehmen.
Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, zeigte sich enttäuscht von der Reform. Erst im vergangenen Dezember sei die Bundesregierung zu dem Ergebnis gekommen, dass eine pauschale Anhebung aller Pflegeleistungen um fünf Prozent angemessen sei. „Jetzt bekommen 3,3 Millionen Pflegebedürftige daheim nichts“, sagte er dem epd. Bei den Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern seien es derweil im ersten Jahr effektiv gerade 2,5 Prozent. „Das ist keine Pflegereform, sondern nur ein Taschenspielertrick“, sagte er.
Auch die „Initiative für eine nachhaltige und generationengerechte Pflegereform“, ein Bündnis von acht Verbänden aus der Wirtschaft und aus der Pflege, sieht die Reform kritisch. Diese sehe Leistungsausweitungen ohne ausreichende Gegenfinanzierung und ohne nachhaltige Finanzierungsstrategie für eine alternde Gesellschaft vor. Die geplanten zusätzlichen Leistungen seien unterfinanziert und würden kurzfristig zu Beitragssatzsteigerungen führen. Die Erweiterung habe keine nachhaltige Finanzierungsperspektive. Zudem vergrößere sie das Defizit bei der Generationengerechtigkeit im Umlageverfahren.
Der Präsident des Sozialverbands Deutschland, Adolf Bauer, sagte, die neuen Regelungen hätten „den Namen Pflegereform nicht verdient“. Zwar werde den finanziell besonders belasteten Langzeitpflegebedürftigen in den Heimen künftig mit Zuschüssen erheblich geholfen. Die Pflegekosten würden aber weiter steigen. Zudem bleibe ein pflegebedingtes Armutsrisiko, „denn als Teilkostenversicherung mit begrenzten Zuschüssen je Pflegegrad tragen die Pflegebedürftigen jede Kostensteigerung zu 100 Prozent selbst“.