Rosenheim (epd). Durch die breite Fensterfront flutet die Sonne ins riesige Wohnzimmer, das Herzstück des Domizils von Hans-Martin und Elke Schroeder hoch über den Dächern der Rosenheimer Innenstadt. Bis Corona mit seinen Beschränkungen kam, organisierte Elke Schroeder hier in unregelmäßigen Abständen „Kultur im Salon“, Künstlerevents mit bis zu 60 Gästen im privaten Kreis. Sogar der oberbayerische Musikkabarettist Josef Brustmann war hier mit seinem Programm „Das Leben ist kurz, kauf sie dir, die roten Schuh“ - womit Elke Schroeder beim Thema ist.
„Das Leben passiert jetzt, ich weiß nicht, was morgen oder in drei Jahren sein wird“, sagt die 72-Jährige. Also genießt sie die gemeinsame Zeit mit ihrem Mann und verweigert trotzig alle Spekulationen über die Zukunft. „Wir sind dem Alzheimer auch dankbar, sonst hätten wir nicht so viel Freiraum geschaffen für uns beide“, sagt sie und schaut ihren Mann zärtlich an. Nach der Diagnose 2016 hatte der Starnberger Pfarrer mit 59 Jahren den vorgezogenen Ruhestand beantragt, ein Jahr später fing das Paar in Rosenheim neu an.
Wenn Hans-Martin Schroeder über seinen Krankheitsverlauf der vergangenen drei Jahre spricht, bekommt man den Eindruck eines japanischen Stockkämpfers. Statt die Attacken des Alzheimer mit Gewalt abzublocken, lenkt er sie elegant an sich vorbei. Zu tun, was geht, ist sein Motto. Nicht zu hadern über das, was verloren ist.
In der Rosenheimer Anfangszeit ist Hans-Martin Schroeder zum Beispiel gern allein zum Einkaufen gegangen, doch das hat er aufgegeben. Der 63-Jährige zieht ein schmales schwarzes Portemonnaie aus der Gesäßtasche und klappt es auf: „Wenn ich an der Kasse stehe und mit EC-Karte zahlen soll - das macht mich total nervös“, sagt er und zeigt auf die vielen Fächer des Geldbeutels. Also geht er jetzt eben zusammen mit seiner Frau.
Auch andere alltägliche Handgriffe fallen ihm schwer: Wo stehen beim Tischdecken die Gläser? Welcher Handschuh muss an welche Hand? Wie isst man eine Weißwurst? „Auch der Weg ins Unterhemd ist manchmal schwierig“, lächelt seine Frau, „und die Schnürsenkel…“ „Oh ja!“, ruft ihr Mann und lacht mit. Elke Schroeder ist froh, dass ihr Mann in solchen Situationen um Hilfe bitten und sie auch annehmen kann. Sie selbst sei dankbar, dass sie die Kraft für den Haushalt und für die Unterstützung ihres Mannes habe. „Es ist ein Geschenk, dass wir so gut und gern miteinander können“, sagt sie.
Doch nicht nur Alltagstätigkeiten, auch manche Vorhaben sind in den letzten Jahren gebröckelt. Die ausgedehnten Tandemtouren sind passé - „ich habe mich im Verkehr nicht mehr so sicher gefühlt“, sagt Hans-Martin Schroeder. Statt dessen unternehmen beide lange Wanderungen im Umland. Seine Passion des Briefeschreibens hat er zur Seite gelegt - von Hand geht es nicht, und mit dem PC dauert es so lang, bis ein Wort fertig da steht. Statt dessen liest er viel und beide singen im Chor der Erlöserkirche - ein fester Termin in der Woche, der beiden gut tut.
Auch die Idee, hin und wieder als Pfarrer bei Gottesdiensten auszuhelfen, ließ sich nur ein paar Monate lang verwirklichen. „Wenn etwas auf dem Altar lag, wusste ich plötzlich nicht mehr, wozu“, sagt der Pfarrer. Seine Frau erinnert sich an eine Hochzeit auf der Burg Pappenheim, für die sie regelrecht trainiert hätten. „Während der Trauung sagte mein Mann plötzlich: Elke, würdest du bitte mal kommen?“ Sie sei also zwischen all den Gästen nach vorn gelaufen, als ihr Mann sie fragte, wie es nach diesem Text nun weitergehe. „Und ich sagte: Jetzt hast du das Gedicht gelesen, jetzt sprichst du über den Trauspruch.“
Hans-Martin Schroeder hört der Anekdote mit gespitzten Lippen und belustigtem Blick aufmerksam zu. Ein Lachen perlt aus ihm heraus, gemeinsam amüsieren sie sich über diese Erinnerung. Spätestens nach diesem Erlebnis sei jedoch klar gewesen, dass Einsätze als Pfarrer für Hans-Martin Schroeder eine zu große Belastung sind.
Aber ist das so einfach, die Dinge loszulassen? „Manchmal bin ich schon traurig, wenn ich die Uhr nicht lesen kann“, sagt Hans-Martin Schroeder mit leichtem Stirnrunzeln. „Aber dann lass ich es gehen - es hilft ja auch nicht.“ Er sei froh, dass ihn der Alzheimer nicht jähzornig mache. Wie stark andere Demenzerkrankungen Menschen verändern könnten, wisse er noch aus seiner Zeit als Pfarrer in Starnberg. Seine Frau nickt und sagt: „Dein Wesen bleibt dir.“
So geht das Leben der Schroeders mit Alzheimer weiter, vielleicht manchmal mühselig, oft heiter. In jedem Fall offen und dankbar. Tag für Tag aufs Neue.