Hamburg, Münster (epd). Bei Antonia Peters begann es mit zwölf. Einige Zeit hat sie ihre Zwangsstörung verheimlicht. „In den 70er Jahren durfte so etwas einfach nicht vorkommen“, sagt die heute 63-Jährige. Aber dann war es nicht mehr zu übersehen: Antonia Peters riss sich die Haare aus. Sie konnte nicht anders. Schließlich trug sie Perücken und ließ niemandem mehr an sich heran.
Erst mit 25 wagte sie sich zum Neurologen, es folgten Therapien, Klinikaufenthalte, Medikamente. „Seit 20 Jahren habe ich den Zwang überwunden“, sagt die Hamburgerin, „aber wenn Druck da ist, fahre ich mir wieder mit den Händen durch die Haare und zwirbele die Haarspitzen.“
Corona ist so eine Druck-Situation. Und Antonia Peters ist nicht die einzige, die in der Pandemie eine latente Rückkehr ihres Handlungszwangs beobachtet. „Vielen geht es schlecht“, sagt sie, „Corona verstärkt Ängste und Zwänge. Es gibt bei vielen Rückschläge. Aber es gibt nicht ausreichend Therapieplätze.“
Und das treibt Antonia Peters um. „Die Versorgungssituation ist ganz fatal“, sagt sie. Die Therapeuten seien teils über Jahre ausgebucht und führten keine Wartelisten mehr, viele warteten ein- bis eineinhalb Jahre auf einen ambulanten Therapieplatz, in den Klinken gäbe es oft Wartezeiten von 10 bis 18 Monate. „Die Leute rufen bei uns an und sind verzweifelt“, sagt Peters.
Als Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen schrieb sie Anfang März an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), bislang ohne Antwort. „Die Regierung reagiert überhaupt nicht. Das besorgt uns sehr.“ Nun will Peters zusammen mit dem Aktionsbündnis Seelische Gesundheit und der Bundespsychotherapeutenkammer bei Politik und Krankenkassen Druck für mehr Behandlungsangebote machen.
„Das fängt bei den Kassen an“, sagt sie. Weil die Therapeuten, die über die gesetzlichen Krankenkassen abrechnen, ausgebucht seien, müssten die Kasse die Plätze bei privaten Therapeuten bezahlen, argumentiert sie. Das Kostenerstattungsverfahren werde aber von vielen Kassen zu zögerlich angewendet. Videosprechstunden und virtuelle Treffen der Selbsthilfegruppen seien kein wirklicher Ersatz für eine Therapie. „Zwangsstörungen lassen sich sehr gut verstecken. Da braucht es den persönlichen Kontakt.“
Das weiß auch Thomas Hillebrand. Er ist Therapeut in Münster und hat sich auf die Behandlung von Zwangserkrankungen spezialisiert. „Es ist abzusehen, dass es durch die Pandemie mehr Zwangserkrankungen geben wird“, sagt er. Das sei schon bei früheren Epidemien der Fall gewesen, etwa bei AIDS. Und es habe sich bereits nach der ersten Corona-Welle 2020 gezeigt. Vor allem die Symptomatik bei Waschzwängen stieg nach seiner Wahrnehmung stark an.
Die Symptome der Betroffenen reichten von einer wachsenden Zahl an Vorsichtsmaßnahmen vor einer Ansteckung, über eine zwanghafte Berührungsangst, die übersteigerte Sorge, ein Familienmitglied könne sich infiziert haben, bis hin zur Überzeugung, der eigene Atem im Auto sei gefährlich. „Die Pandemie-Welt wird als extrem bedrohlich wahrgenommen“, erläutert Hillebrand.
Bis allerdings empirische Zahlen vorlägen, wird es nach Einschätzung Hillebrands es noch einige Zeit brauchen. „Es dauert, bis die Betroffenen erkennen, dass sie unter einer Zwangsstörung leiden“, sagt er.
Manche mit Zwangsstörung allerdings entlastet die Pandemie. Carola Knaus (Name von der Redaktion geändert) aus Steinfurt leidet seit ihrem 18. Lebensjahr an einem Waschzwang. Mit Wasser will sie sich ständig den Dreck und die Bakterien des Alltags von den Händen spülen. Seit Corona spürt die 34-Jährigen jedoch „eine gewisse Erleichterung“. Denn anders als vor der Pandemie gehört häufiges Händewaschen für alle selbst in der Öffentlichkeit dazu. „Viele achten jetzt auf Hygiene und halten Distanz“, sagt Sachse, „viele achten mehr auf sich selbst.“