Berlin (epd). Zum ersten Mal hat sie es 1986 getan: Als Irmela Mensah-Schramm eines Morgens ihre Wohnung in einem beschaulichen Berliner Stadtviertel verließ, fiel ihr an der Bushaltestelle ein Aufkleber auf, der Freiheit für Rudolf Heß (1894-1987) forderte. Der ehemalige Hitler-Stellvertreter saß damals im Berliner Ortsteil Spandau eine lebenslange Haftstrafe ab. Als sie am Abend wiederkam, sei der Aufkleber noch immer an Ort und Stelle gewesen, erzählt Irmela Mensah-Schramm. Daraufhin habe sie beschlossen, selbst Hand anzulegen: „Den ersten Aufkleber habe ich mit dem Schlüssel abgekratzt.“

Das sei im wahrsten Sinn des Wortes ein Schlüsselerlebnis gewesen, „weil ich dann die anderen Aufkleber wahrgenommen habe, die ich vorher nicht gesehen habe“, sagt die heute 78-Jährige. Rassistische und ausländerfeindliche Parolen verfremdet sie oder übersprüht sie mit roten Herzen.

Mensah-Schramm verlässt ihre Wohnung nie ohne Schaber und Nagellackentferner. Damals sei sie von ihren Aktionen oft erst kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen, um morgens um fünf Uhr wieder aufzustehen, sagt die Polit-Aktivistin. Die gebürtige Stuttgarterin unterrichtete damals in einer Sonderschule. Auch mit Schülerinnen und Schülern habe sie mitunter am Nachmittag Schmierereien entfernt.

Wenn die seit 1969 in Berlin lebende Frau Behörden auf die Schmierereien aufmerksam machte, erklärte sich nach ihren Angaben niemand für zuständig. „Deshalb bin ich dazu übergegangen, selbst zu übersprayen.“

Für ihren Einsatz erntete sie nicht nur Anerkennung, sondern auch Anfeindungen und Strafverfahren. Aus einem Graffiti „Merkel muss weg“ in Berlin-Zehlendorf machte sie 2016 „Merke! Hass weg!“. Ein deswegen eingeleitetes Strafverfahren wegen Sachbeschädigung wurde später eingestellt.

Auch heute noch macht sich die 78-Jährige auf den Weg, um Nazi-Propaganda zu entfernen. Sie entschuldigt sich für liegen gebliebene Akten in ihrer Dachwohnung, zu der sie über ein Treppenhaus ohne Aufzug gelangt. Zwei junge weiße Katzen kommen Besuchern neugierig entgegen.

Seit 2007 zählt Mensah-Schramm die entfernten Aufkleber. Mitte Februar waren es knapp 94.670. Stolz zeigt sie dicke Aktenordner mit Fotos, die dokumentieren, wo sich die Aufkleber, Symbole und Slogans vor ihrer Intervention befanden. In Workshops im gesamten Bundesgebiet zeigt sie Schülerinnen und Schülern, wie sie rassistische oder antisemitische Slogans so verfremden können, dass sie zu positiven Botschaften werden.

Zuletzt wurde im vergangenen Jahr Anzeige wegen Sachbeschädigung gegen die Rentnerin erstattet, nachdem sie im brandenburgischen Calau im Landkreis Oberspreewald-Lausitz einen antisemitischen Spruch hinter dem Bahnhof mit grüner Farbe übermalt hatte. „Ich habe eine politische Sachbeschädigung beschädigt“, sagt die Rentnerin dazu: „Ich warte sehnsüchtig auf den Strafbefehl.“ Die Idee scheint sie nicht zu bremsen, sondern eher zu beflügeln.

Aufhören aufgrund von Anfeindungen oder Strafverfolgung kommt für Mensah-Schramm nicht infrage. „Ich resigniere nicht, das lasse ich mir nicht nehmen“, betont sie. Im Berliner Ortsteil Rudow stieß sie etwa auf ein Konterfei von sich mit dem Slogan „Wenn Schramm abkratzt, kratzt uns das nicht wirklich“.

Als sie einmal einen jungen Mann ansprach, der im Begriff war, einen Aufkleber anzubringen, habe er nicht reagiert und sei einfach weggegangen. „Ich habe den Verdacht, dass sie Angst haben, mir etwas anzutun“, vermutet sie. Ein junger Neonazi habe sich indes für ihre Beharrlichkeit bedankt, denn diese habe ihn zu einem Sinneswandel bewegt.

Für ihr Engagement gegen Rechtsextremismus wurde Mensah-Schramm vielfach ausgezeichnet. Die Bundesverdienstmedaille gab sie indes aus Protest gegen die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an ein ehemaliges SS-Mitglied zurück.