Berlin (epd). Der Missbrauch Minderjähriger in den eigenen Reihen wühlt die evangelische Kirche auf. Konsistorialpräsidentin Viola Vogel ruft Betroffene auf, sich zu melden. Jedem Hinweis werde nachgegangen, sagte die Chefjuristin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: In der Ende Januar vorgestellten Studie zum Missbrauch Minderjähriger in der evangelischen Kirche zwischen 1946 und 2020 wird davon ausgegangen, dass die ermittelten Zahlen nur die „Spitze der Spitze des Eisbergs“ sind. Was hat die Landeskirche bisher unternommen, um einen vollständigen Überblick zu bekommen?

Viola Vogel: Wir sind erst einmal sehr froh, dass es die ForuM-Studie jetzt gibt, die die Betroffenen in den Mittelpunkt stellt und auf deren Grundlage wir die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in unserer Kirche weiter voranbringen können. Wir haben für die Studie das zugeliefert, was das Forschungsdesign gefordert hat. Dort standen Pfarrpersonen im Vordergrund. Wir haben dazu alle Disziplinarakten und die dazu gehörenden Personalakten ausgewertet und sämtliche Beschwerdeakten zu Pfarrpersonen geprüft. Wir haben insgesamt 40.000 Akten zu Pfarrpersonen, Kirchenbeamten und sonstigen Beschäftigen in unseren Archiven, etwa 22.000 Personalakten betreffen Pfarrer und Pfarrerinnen. Die Akten betreffen also ganz verschiedene Berufsgruppen, die nicht alle im Fokus der Studie standen. Das wäre das Gesamtspektrum, wenn man alles auswerten will.

epd: Was haben Sie jetzt mit diesen 40.000 Akten vor?

Vogel: Wir sind derzeit in der absoluten Erstauswertung der Studie, zu der wir 41 Beschuldigte und 116 Betroffene sexualisierter Gewalt ermittelt haben. In unserem Bereich ist das das Hellfeld. Wir wollen natürlich auch das Dunkelfeld so hell wie möglich machen. Die Wahrheit muss auf den Tisch, und wir müssen es schaffen, dass wir dort auch weiterkommen. Allerdings sind uns die Hände in gewissem Sinne auch gebunden.

epd: Inwiefern?

Vogel: Zum Beispiel sind nicht alle Akten vollständig, weil etwa Passagen in manchen Fällen wieder entfernt werden können. Bei einer Aufarbeitung von so vielen Jahrzehnten sind natürlich auch viele Betroffene und Täter schon verstorben. Eine Aufarbeitung unter Einbeziehung Betroffener ist deshalb nur für einen gewissen Zeitraum möglich. Und da muss bedacht werden, dass sich Betroffene mitunter 20, 30 Jahre nicht zu ihrem Missbrauch äußern können, weil sie es nicht verkraften. Wir hoffen, dass sich Betroffene, die noch leben, bei uns melden.

epd: Was für neue Erkenntnisse erwarten Sie im Fall einer umfassenden Auswertung der Aktenbestände?

Vogel: Was die Erwartung eines vollständigen Überblicks betrifft, da wäre ich sehr vorsichtig. Mein Eindruck aus der Aktenkenntnis ist, dass sexualisierte Gewalt in strafrechtlich relevantem Ausmaß nicht unbedingt jeden Fall betrifft und dass auch nicht immer alles genau vermerkt wurde. Natürlich gibt es Hinweise auch in diesen Akten, aber kaum detailliert. Vollständigkeit ist also, obwohl sie zu wünschen wäre, nicht möglich.

epd: Wie könnten die Akten bei der Aufklärung weiterhelfen?

Vogel: Jeder Betroffene, der sich bei uns meldet, muss gehört werden. Und dann werden wir alles tun, um die dazu vorliegenden Akten zu finden. Das ist aus meiner Sicht die wichtige Botschaft. Die Erwartungen an eine vollständige Personalaktenüberprüfung, die man sicherlich machen kann, sind im Moment etwas überhöht. Auch wenn wir das machen würden und dafür Mittel zur Verfügung stellen, würden wir nicht die Erkenntnisse daraus gewinnen können, die man sich zum jetzigen Zeitpunkt davon erhofft. Ich würde vorsichtig wagen zu sagen, dass wir mit den 41 Beschuldigten und 116 Betroffenen die schlimmsten Fälle sexualisierter Gewalt der vergangenen 100 Jahre auch wirklich identifiziert haben. Ich schließe natürlich nicht aus, dass auch noch der 43. oder 45. Fall aufgedeckt wird, der bisher noch nicht bekannt war. Wir tun alles, dass noch mehr aufgeklärt werden kann. Wir sind jedem dankbar, der Kenntnis von einem Fall von sexualisierter Gewalt hat und sich meldet.

epd: Sind nach 2020 weitere Missbrauchsfälle in der Landeskirche bekannt geworden?

Vogel: Ja, das liegt im unteren einstelligen Bereich. Ich erwarte aber, dass das nicht die abschließende Zahl ist. Hoffentlich führen die Studie und die Diskussion darüber dazu, dass sich weitere Betroffene melden.

epd: Wie können Betroffene Unterstützung bekommen?

Vogel: Für uns gilt „hören, hinsehen, handeln“, es geht um Aufarbeitung, Hilfe und Prävention. Wir haben seit 2019 eine klare Struktur dafür. Es gibt eine Anerkennungskommission, die Unterstützungsleistungen bis zu 50.000 Euro vergeben kann. Dort wurden seit 2019 rund 220.000 Euro an 20 Menschen gezahlt. Da geht es auch um psychologische Beratung und Hilfen im Umgang mit Traumata. Wir haben die Landeskirchliche Beauftragte für den Umgang mit sexualisierter Gewalt. Und es gibt eine unabhängige Ansprechperson, bei der anonym Meldungen eingehen. Informationen werden nur an uns weitergeleitet, wenn Betroffene das wünschen.

epd: Was für Konsequenzen werden jetzt aus der Studie gezogen?

Vogel: Es wird eine unabhängige regionale Aufarbeitungskommission gemeinsam mit der Nordkirche und den beiden Diakonischen Werken geben, die wird in diesem Jahr gebildet. Dort wird auch Prävention zum Thema gemacht. Wir hoffen sehr, dass sich Betroffene beteiligen und laden deswegen zu Betroffenenforen ein. Wie die Beteiligung aussehen soll, steht aber noch nicht fest. Ich denke, erste Leitlinien könnten Anfang März festgelegt werden.

epd: Was halten Sie noch für erforderlich?

Vogel: In der evangelischen Kirche verjähren derzeit Delikte mit Blick auf Disziplinarmaßnahmen in der Regel innerhalb von vier Jahren. Das ist schwierig, weil Betroffene oft erst nach Jahren die Kraft finden, über den erlittenen Missbrauch zu sprechen. Das ist eine der Stellschrauben, es könnten längere Fristen für Disziplinarverfahren eingeführt werden. Darüber müssen wir reden. Die innerkirchlichen Sanktionen reichen vom Verweis über Geldbußen, Versetzungen in den Wartestand oder Ruhestand, Kürzungen der Bezüge bis hin zu Entlassungen, je nach Schwere des Delikts. Einige Fälle, die wir haben, sind so furchtbar, dass ich jedem und jeder Betroffenen am liebsten sofort ermöglichen würde, zu klagen, egal wie lange es her ist.

Es ist absolut wichtig, dass das Thema oberste Priorität behält und nicht zu einem Thema unter vielen wird. Die Prävention muss ausgebaut werden. In der Landeskirche sollten dafür mehr finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden. Die Beauftragte sollte statt einer halben eine volle Stelle bekommen, auch die Geschäftsstellen der Beauftragten und der Anerkennungskommission sollten gestärkt werden. Hier sind wir als Konsistorium mit der Kirchenleitung und der Synode im Gespräch.

epd: Was für Entschädigungszahlungen für Betroffene halten Sie für angemessen?

Vogel: Die Entschädigung in Geld ist nur eine Form der Anerkennung. Aber ich würde vorsichtig sein, vorschnell mit Geld die Schuld zuschütten zu wollen. Das kann nur ein Strang sein, in welcher Höhe auch immer. Ich würde auch nicht sagen, ab 100.000 Euro ist es dann wirklich gesühnt. Das sind schwierige Diskussionen. Ich finde es wichtig, dass die Betroffenen die Kirche als lernende Institution erleben, die nicht erneut verletzt, indem sie weghört und abwiegelt. Hier müssen wir uns als Kirche grundlegend verändern. Die Studie und ihre Ergebnisse werden jetzt intensiv besprochen. Wir werden daraus Maßnahmen entwickeln, die sicherstellen sollen, dass Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt minimiert und Betroffene in unserer Kirche in größerem Maße als bisher gehört und unterstützt werden.