sozial-Branche

Corona

Interview

"Häusliche Pflege hat sich zugespitzt"



Die Pandemie hat auch gravierende Auswirkungen auf die Lage in der häuslichen Pflege. Die Diakonie berichtet von immer mehr erschöpften Angehörigen, die Rat und Hilfe suchen. Wie ihnen beizustehen ist, erläutert Expertin Gabriele Tammen-Paar von der Berliner Diakonie Stadtmitte im epd-Interview.

In der Corona-Pandemie hat sich die häusliche Pflege drastisch verändert. Pflegende Angehörige fühlen sich stark belastet und erschöpft, berichtet die Leiterin der Berliner Beratungs- und Beschwerdestelle "Pflege in Not", die zur Diakonie Stadtmitte gehört, Gabriele Tammen-Parr, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Betroffene hoffen durch Impfungen und die Rückkehr von Unterstützungsangeboten nun auf Entlastung in der angespannte Lage. Die Fragen stellte Christine Xuân Müller.

epd sozial: In Deutschland werden drei Viertel der rund 4,8 Millionen Pflegebedürftigen nicht in Heimen, sondern zu Hause betreut - die meisten von ihnen durch Angehörige. Findet diese Arbeit ausreichend Beachtung?

Gabriele Tammen-Parr: Häusliche Pflege findet hinter verschlossenen Türen statt. Und wenn über Pflege gesprochen wird, denken viele Menschen eher an Pflegeeinrichtungen. Das was zu Hause täglich, über Jahre und Jahrzehnte geleistet wird, kann nicht genug gewürdigt werden, aber ist in der Öffentlichkeit wenig bekannt.

epd: Was heißt das in Zahlen?

Tammen-Parr: Von den rund 3,6 Millione Menschen, die zu Hause gepflegt werden, werden über 60 Prozent alleine von Angehörigen, also ohne Unterstützung durch einen Pflegedienst, gepflegt. Das heißt, der große Anteil der alten pflegebedürftigen Menschen wird in der Familie versorgt. Obwohl wir von "Pflege in Not" eigentlich nur für das Land Berlin zuständig sind, bekommen wir Anrufe und Beratungsanfragen auch aus anderen Bundesländern. In anderen Bundesländern gibt es keine vergleichbaren Beratungsangebote, die speziell auch zu Konflikten und Aggressionen in der häuslichen Pflege beraten.

epd: Können Sie die aktuelle Lage der pflegenden Angehörigen in der Corona-Pandemie beschreiben?

Tammen-Parr: Uns von "Pflege in Not" war damals zu Beginn der Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen sofort klar, wenn die Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige gänzlich wegbrechen, wird sich die Situation in der häuslichen Pflege dramatisch zuspitzen. Verzweifelte Angehörige berichteten, dass die Überforderung extrem zugenommen hat. Die Abhängigkeit ist nochmal sehr viel stärker geworden. Die körperliche und emotionale Nähe hat sich nochmal verdichtet. Die Betroffenen sind völlig reduziert auf die gemeinsame Beziehung. Und natürlich haben sich Aggressionen und Konflikte entwickelt, das war zu erwarten.

epd: Welche Gründe gibt es dafür?

Tammen-Parr: Es gab keine Entlastung durch entlastende Angebote oder durch Kontakte von außen. Es war kaum eine Abgrenzung für den Pflegenden und den Pflegebedürftigen möglich. Und hinzu kam die große Angst der Infektion, also die Angst der pflegenden Angehörigen, sich zu infizieren und die Frage, was passiert dann mit dem Pflegebedürftigen? Kurzum: die häusliche Pflegesituation hat sich in der Corona-Pandemie dramatisch verändert und zugespitzt. Unsere Anruferzahlen, also die Zahlen der Ratsuchenden haben sich zu Beginn der Pandemie verdreifacht. Im Sommer entspannte sich die Situation etwas. Aber was sich die ganze Zeit durchgezogen hat, ist, dass die Leute nicht wissen, wie sie die Situation durchstehen. Oft ist es zum Beispiel auch die räumliche Enge, die belastet, wenn eine demenzerkrankte Pflegeperson und pflegende Angehörige etwa in einer Zwei-Zimmer-Wohnung leben und 24 Stunden am Tag zusammen sind. Wut und Aggressionen haben zugenommen, neben psychischer auch körperliche Gewalt. Oft liegen die Nerven einfach blank.

epd: Viele pflegende Angehörige sind selbst oft im Rentenalter, die etwa ihren an Demenz erkrankten Partner oder Partnerin zu Hause betreuen. Welche Möglichkeiten der Unterstützung gibt es für sie?

Tammen-Parr: Im Moment gibt es leider kaum Angebote für die Pflegenden und ihre Angehörigen. Das Land Berlin bietet normalerweise ein vergleichsweise großes Angebot an Unterstützungsmöglichkeiten wie Tagespflege, Kurzzeitpflege, Gesprächsgruppen und andere Betreuungsangebote. Vor der Corona- Pandemie gab es zum Beispiel neben der aufsuchenden Beratung auch qualifizierte Ehrenamtliche, die in die Wohnung kamen, um den pflegenden Angehörigen zu entlasten. Hier konnte durch eine Eins-zu-Eins-Betreuung der zum Beispiel demenzerkrankte Partner stundenweise betreut werden. Eine von vielen Entlastungen, die seit März letzten Jahres nicht mehr zur Verfügung stehen. Das heißt, pflegende Angehörige waren plötzlich ganz auf sich alleine gestellt und die meisten sind es immer noch.

epd: Durch Impffortschritte und mehr Testkapazitäten gibt es erste Entspannungen, gilt das auch für die häusliche Pflege?

Tammen-Parr: Die Entspannung ist in der häuslichen Pflege zu einem kleinen Teil angekommen. Seit Herbst gibt es zum Beispiel in Berlin wieder Tagespflegeangebote - allerdings in reduziertem Umfang. Noch nicht wieder geöffnet sind die Betreuungsgruppen. Auch Einzelbetreuung und zugehende Beratung finden noch nicht statt. Die Folgen sind, dass pflegende Angehörige jetzt total erschöpft sind. Es ist eher so eine Stimmung nach dem Motto "Aushalten und Durchhalten" und zu sagen: "Lieber Gott, lass es uns noch überstehen bis zur Impfung" und dass es sich dann wieder entspannt.

epd: Beim Thema Corona-Impfung fühlten sich viele pflegende Angehörige vergessen, warum?

Tammen-Parr: Wir hatten gehofft, dass bei der Impfung von Pflegebedürftigen auch die pflegenden Angehörigen gleich mitgeimpft werden. Interessenvertretungen von pflegenden Angehörigen und auch wir haben immer wieder angemahnt, dass pflegende Angehörige bei Impfungen vorgezogen werden. Da gibt es jetzt eine erfreuliche Entwicklung. Die neue Impfverordnung sieht vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen Pflegebedürftige und ein bis zwei enge Kontaktpersonen, Anspruch auf eine Impfung haben. Darüber freuen wir uns!

epd: Welche Hilfe benötigen pflegende Angehörige jetzt aktuell am dringendsten?

Tammen-Parr: Es würde sehr helfen, wenn die Unterstützungsangebote für die Pflegebedürftigen und ihre pflegenden Angehörigen wieder zur Verfügung stehen würden. Jetzt aktuell haben wir es natürlich noch mit der aggressiveren Weiterentwicklung des Virus, den Mutationen, zu tun. Natürlich muss man genau abwägen, was unter welchen Bedingungen wieder aufgemacht wird. In Berlin sind zum Beispiel die Bewohner der Pflegeheime inzwischen alle durchgeimpft. Der Großteil der Pflegekräfte dort wurde ebenfalls zu rund 65 bis 70 Prozent geimpft. Dadurch kann auch wieder vorsichtig Begegnung und Nähe hergestellt werden. Wenn ähnlich wie in den Pflegeheimen nun zum Beispiel die Besucherinnen und Besucher der Tagespflegen, deren Angehörige und das Personal vor Ort geimpft sind, wäre das ein riesiger Schritt, um weitere Öffnungen vorzubereiten. Natürlich sollte man die Hygienemaßnahmen weiterhin beachten und auch Testungen bei Bedarf weiterhin vornehmen.