Berlin (epd). Digitalisierung polarisiert die Gesellschaft - genauso wie die "Fridays for future"-Bewegung: Erst kommt der Wirbel, die Faszination des Neuen oder der Widerstand dagegen, dann die Phase der Reflexion und Normalität. Ob Klimaschutz oder Digitalisierung - beide Entwicklungen lassen sich in Ansätzen mit der Theorie der Langen Wellen vergleichen: das verbindende Element ist der Paradigmen-Wechsel.
Im Fall der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft ist dieser Paradigmenwechsel durch den Ausbruch der Corona-Pandemie unumkehrbar deutlich geworden: Am technologischen Wandel führt im Grunde schon lange kein Weg mehr vorbei, allein über Art und Tempo kann diskutiert werden. Während die Protagonisten der Digitalisierung ständig mit den Hufen scharren, warten die Bedächtigen erst mal ab und prüfen jedes neue Produkt oder jedes Förderprogramm, ob es passend und notwendig ist. Schließlich gibt es auch noch die Skeptiker, die meinen, die Digitalisierung gegen die Menschlichkeit ausspielen zu müssen.
Während sich die letztgenannte Sichtweise in die historische Reihe eines empirisch vielfach widerlegten Technik-Skeptizismus einreiht, sind die ersten beiden Sichtweisen aus der jeweiligen Perspektive verständlich. Doch behindern sie sich gegenseitig bei dem gemeinsamen Ziel, die Digitalisierung der Sozialwirtschaft im notwendigen Tempo voranzubringen.
Der Grund: Der digitale Reformprozess benötigt einen geeinten Willen und einen nationalen Strategieplan, wie ihn beispielsweise das Verbändebündnis Digitalisierung in der Pflege in seinem gemeinsamen Grundsatzpapier "Digitalisierung in der Pflege: Eckpunkte einer nationalen Strategie" fordert. Das Bündnis benennt zentrale Handlungsfelder: technische Standards, Innovationen, Kompetenzentwicklung und Teilhabe. Denn die Corona-Pandemie zeigt, dass es in der Sozialwirtschaft an leistungsfähigen Netzwerk-Infrastrukturen, technischem Equipment und am Digital-Wissen des Personals mangelt.
Im Fokus der Forderungen steht jedoch das Schaffen geeigneter finanzieller Rahmenbedingungen für die Sozialwirtschaft. Die schon lange bestehende Schwierigkeit in fast allen Arbeitsfeldern, IT-Kosten irgendwie in den Verwaltungs- oder Overhead-Aufwendungen verstecken zu müssen, zeigt sich jetzt angesichts der Corona-Krise in grellem Licht. Wer schon in der Vergangenheit mehr in IT investiert hat, um Prozesse zu verschlanken und für leistungsbereite Mitarbeitende attraktiv zu bleiben, musste sich von den Kostenträgern anhören, dass die Verwaltungskosten doch bitte gesenkt werden müssen. Eine direkte Refinanzierung von Digitalisierungsaufwänden gibt es bislang - abgesehen vom Einmalbetrag von 12.000 Euro für Pflegeeinrichtungen im Rahmen des Pflege-Stärkungsgesetzes - in den deutschen Sozialgesetzen nicht, in Leistungsvereinbarungen nur sporadisch.
Diese Misere jedoch nur der Politik anzulasten, würde zu kurz greifen. Denn auch die Spitzenfunktionäre der Wohlfahrt haben sich über Jahrzehnte kaum mit IT und Digitaltechnik beschäftigt und entsprechend auch keine politische Lobbyarbeit dafür geleistet, dass eine moderne IT nicht nur zur selbstverständlichen Grundausstattung jeder Einrichtung gehört, sondern auch die Effizienz und Professionalität der sozialen Dienstleistungen steigert. Der nun langsam einsetzende Wandel in den Köpfen muss deutlich an Fahrt aufnehmen.
Gefordert sind zudem die Einrichtungen selbst: Zwar haben sich in Zeiten der Kontaktbeschränkungen Haltungen verändert und langatmige Grundsatzdiskussionen wurden durch handfeste positive Erfahrungen ersetzt. Doch ist das schon der vielzitierte Digitalisierungsschub? Eher nein.
Denn Digitalisierung ereignete sich meist lediglich auf der Ebene der Kommunikation - vom Homeoffice über Collaboration-Tools mit Kollegen, im Video- oder Messenger-Chat mit Klienten oder Partnern im Hilfenetz. Die meisten anderen Bereiche der IT und Digitaltechnik blieben davon weitgehend unberührt: Die veraltete Fachsoftware für Klientenverwaltung, das FiBu-Programm ohne Rechnungseingangs-Workflow oder die Personalverwaltungs-Software ohne Mitarbeiter-Selfservice. Corona hat daran so gut wie nichts geändert. Ebenso wenig getan hat sich seither auch im Bereich der Assistenztechnologien oder der Nutzung der Potenziale von Künstlicher Intelligenz und Big Data.
Digitalisierung bedeutet also weit mehr, als eben mal eine Videokonferenz-Software zu installieren. Viele Träger beginnen jetzt zu erahnen, dass es höchste Zeit wird, eine tragfähige Digitalisierungsstrategie zu entwickeln, die alle Geschäftsfelder, die digitalen Kommunikationswege, aber auch die internen Prozesse systematisch einbezieht. Dabei muss man oft relativ weit unten anfangen, denn in vielen Organisationen hat sich ein regelrechter Modernisierungsstau gebildet, der in der Krise schonungslos zutage trat: viel zu schwache Internetanbindungen, kaum W-LANs, nicht mobilfähige Branchensoftware, keine oder viel zu wenig Mobilgeräte - die Liste ließe sich fortsetzen.
Die Sozialwirtschaft steht mit diesen Herausforderungen jedoch keineswegs allein - die Notwendigkeit der Digitalisierung betrifft auch andere Branchen - wenngleich die Prioritäten teils anders gelagert oder bereits Lösungen umgesetzt worden sind.
Drei Beispiele: Die Wohnungswirtschaft hat wie die Pflegebranche schon seit Jahren kein Mieter- oder Klientenproblem, steht aber vor der Herausforderung einer alternden Kundschaft. Ihre Lösung: Assistenzsysteme werden in die Mietwohnungen eingebaut oder es werden technologische Grundlagen bei Bau- und Sanierungsvorhaben geschaffen, damit Mieter eigene Assistenzsysteme individuell aufschalten können. Mit dem Blick auf die Hospitality-Branche zeigt sich, wie digitale Buchungs- und Belegungsprozesse gemanagt werden und wie Apps und NFC-Technologie beim Check-in und -out helfen.
Der Finanztechnologiesektor experimentiert mit der Blockchain-Technologie, einer Lösung, die auch in der Sozialwirtschaft Einsatz finden könnte - beispielsweise in Hinblick auf die Optimierung der Abläufe bei der Rechnungsstellung, Zahlung und Zahlungszuordnung zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern. In Zusammenarbeit mit dem Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft (vediso) hat hier FINSOZ ein erstes Positionspapier "Billing Chain" im September dieses Jahres veröffentlicht.
Den genannten Beispielen ist gemein: Die Initiativen und Investitionen gehen von der Wirtschaft aus. Sie befördert damit den Aufschwung der Digitalisierung. Das ist gut. Aber nicht ausreichend. Um die Digitalisierung der Sozialwirtschaft zu beflügeln und zu verankern, bedarf es in dieser auf das Gemeinwohl ausgerichteten Branche auch entsprechender politischer und finanzieller Rahmenbedingungen.
FINSOZ hat vor diesem Hintergrund bereits im Frühjahr 2020 die Partner-Initiative "Pflege-Digitalisierung" gegründet und arbeitet mit über 50 Partnern an einer Kampagne zur Digitalisierung der Sozialwirtschaft.