Berlin (epd). Der im Auftrag der Bundesregierung entstandene Kinder- und Jugendbericht bescheinigt der politischen Bildung in der Schule "in allen Bereichen" Defizite. Der am 11. November in Berlin vorgestellte Bericht beklagt zu wenig Platz dafür im Lehrplan, einen oft zu späten Start und zu viel fachfremdes Personal. "Wir haben festgestellt, dass wir gerade im Fach Politik Lehrer haben, die nicht Politik studiert haben", sagte der Vorsitzende der Berichtskommission, Christian Palentien, Erziehungswissenschaftler aus Bremen. Die Autoren fordern zudem mehr Möglichkeiten praktischer Demokratieerfahrungen inner- und außerhalb der Schule.
Palentien sagte, man müsse politische Bildung zum Bildungsprinzip machen. Dazu gehörten auch mehr Möglichkeiten zur Mitbestimmung durch Schülerinnen und Schüler. Der Bericht beklagt zudem Defizite im Bereich der Grundschule. Der Sachkundeunterricht, der Platz für politische Bildung bieten soll, konzentriere sich oft auf die naturwissenschaftlichen Inhalte, sagte Palentien, der den Lehrstuhl "Bildung und Sozialisation" der Universität Bremen innehat. Der Bericht fordert, dass in allen Schulformen zwischen Klasse fünf und zehn mindestens zwei Stunden pro Woche für politische Bildung zur Verfügung stehen sollten.
Der inzwischen 16. Kinder- und Jugendbericht fordert insgesamt eine Stärkung der politischen Bildung bei Kinder und Jugendlichen. Demokratiegefährdende Inhalte wie Nationalismus und Rechtsextremismus kämen auch durch soziale Medien früh auf Minderjährige zu, sagte Palentien. Der Bericht beleuchtet verschiedene Räume politische Bildung auch außerhalb der Schule, beispielsweise in Parteien, Protestbewegungen und Freiwilligendienste.
Der Bericht fordert auch eine generelle Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, um Jugendliche stärker zu beteiligen. Der Kasseler Politikdidaktiker und Kommissionsmitglied Andreas Eis appellierte zudem an Parteien, sich attraktiver für Jugendliche zu machen. Sie suchten Verbündete in Nichtregierungsorganisationen, fänden Unterstützung in lokalen Vereinen und erarbeiteten sich mit deren Hilfe Expertise in Workshops, Sommercamps oder politische Aktionstrainings, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Viele dieser Formate entwickeln und moderieren Jugendliche selbst", erklärte Eis und ergänzte: "In Parteien treffen sie hingegen vor allem auf feste Strukturen, auf etablierte Rollen von anerkannten Sprecherinnen oder Sprechern und andere Ausschlussmechanismen."
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) unterstützte die Forderung der Berichtsautoren nach mehr politischer Bildung. Für politische Bildung brauche es auch einen guten Rechtsrahmen, sagte Giffey und verwies dabei unter anderem auf die von ihr vorgelegte Reform des Jugendmedienschutzes, über die der Bundestag noch entscheiden muss.
Giffey sagte, sie wolle sich zudem auch weiter für ein Demokratiefördergesetz innerhalb der Bundesregierung einsetzen, das Initiativen dauerhafte Finanzierung sichern soll. Sie sind derzeit von befristeten Projektgeldern abhängig. In der Koalition ist das Gesetz umstritten. Giffey betonte, sie wolle bis zur letzten Möglichkeit dafür eintreten. In der kommenden Woche soll nach ihren Worten der Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus auch darüber erneut beraten.
Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, erklärte, demokratische Bildungsangebote seien ein zentraler Baustein zur politischen Teilhabe junger Menschen und zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. "Angebote demokratischer Bildung müssen zukünftig noch stärker auf benachteiligte junge Menschen ausgerichtet sein." Nur so könne es gelingen, die Teilhabemöglichkeiten aller Kinder und Jugendlichen zu stärken und damit auch das Vertrauen in die demokratischen Strukturen unserer Gesellschaft erfahrbar werden lassen." Damit das gelinge, bedürfe es einer institutionellen Absicherung der Angebote und entsprechend qualifizierter Fachkräfte. "Andernfalls, und auch das zeigt die Studie eindrucksvoll, droht bei großen Teilen der nachwachsenden Generationen die Akzeptanz für das demokratische System verloren zu gehen."
Die Grünen Ekin Deligöz, Sprecherin für Kinder- und Familienpolitik, und Beate Walter-Rosenheimer, Sprecherin für Jugendpolitik, sagten, die Bundesregierung solle endlich Kinderrechte im Grundgesetz verankern und vor allem das Wahlalter auf 16 Jahre absenken. "Das bleibt ärgerlicherweise eine große Leerstelle der großen Koalition." Das gelte ebenso für ein Demokratiefördergesetz, das die Bundesfamilienministerin seit Jahren in Aussicht stellt – bisher ohne Erfolg. "Dabei braucht es für die Demokratiebildung und zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit gegen Extremismus mehr denn je eine fundierte gesetzliche Grundlage", mahnten die Grünen.