

Frankfurt a.M., Berlin (epd). Vier medizinische Fachgesellschaften haben Bund, Länder und Kommunen aufgerufen, Kitas und Schulen trotz der Corona-Pandemie so bald wie möglich vollständig zu öffnen. Insbesondere bei Kindern unter zehn Jahren sprächen die aktuellen Daten sowohl für eine niedrigere Infektions- als auch für eine deutlich geringere Ansteckungsrate, heißt es in einem gemeinsamen Papier.
Der SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach warnte am 19. Mai indes vor einer weiteren Öffnung der Schulen. Ähnlich kritisch äußerte sich die Gewerkschaft ver.di mit Blick auf die Kitas.
Nordrhein-Westfalen schafft bereits Fakten: Das Land will angesichts sinkender Zahlen bei den Corona-Infektionen ab dem 8. Juni wieder alle Kinder in Kitas und Kindertagespflege betreuen lassen. "Ich weiß, dass viele Familien in den letzten Wochen an die Grenze ihrer Belastbarkeit gekommen sind und vielen Kindern ohne frühkindliche Bildung täglich Chancen genommen werden, sagte NRW-Kinder- und Familienminister Joachim Stamp (FDP) am 20. Mai in Düsseldorf.
Die Fachgesellschaften betonen, die Daten aus vielen Untersuchungen, Studien, Modellberechnungen und Ausbruchsanalysen belegten, dass Kinder und Jugendliche nicht die treibende Kraft der Pandemie seien. Im Gegensatz dazu seien die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Schließungen gravierend, erklären die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland. Indem diese Folgen für Kinder und Jugendliche nicht thematisiert worden seien, seien deren elementare Rechte verletzt worden.
Die Bedeutung von Schul- und Kitaschließungen auf die Dynamik der weiteren Infektionsausbreitung werde als gering eingeschätzt, heißt es weiter in dem Papier. Kindertagesstätten und Grundschulen sollten daher möglichst zeitnah wiedereröffnet werden. Das Risiko für Lehrer, Erzieher, Betreuer und für Eltern lasse sich durch Einhaltung der wichtigen Hygieneregeln seitens der Erwachsenen und der Jugendlichen ausreichend kontrollieren.
In Kindertagesstätten und Grundschulen sei eine Öffnung nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung "aufseiten der Kinder ohne massive Einschränkungen" möglich, schreiben die Experten in ihrer Stellungnahme. Die Kinder könnten etwa im Händewaschen und achtsamen Hygieneverhalten im Umgang miteinander, beim Essen und in den Sanitäreinrichtungen spielerisch und kindgerecht unterwiesen werden. "Kleinstgruppenbildung und Barriereschutzmaßnahmen wie Abstandswahrung und Maskentragen" seien unnötig.
Schüler in weiterführenden Schulen könnten aktiver in den Hygieneschutz einbezogen werden, etwa durch Abstandswahrung und das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung.
Entscheidender als die individuelle Gruppengröße seien eine Konstanz der jeweiligen Gruppe und das Vermeiden von Durchmischungen, heißt es. Größere Gruppenbildungen in Pausen sowie während Bring- und Abholphasen sollten vermieden werden. Lehrkräfte seien zu schützen durch Masken, Abstand untereinander und Hygienemaßnahmen.
Der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach erklärte hingegen, die Öffnung der Schule könne ein großes Problem werden, denn es fehle an geeigneten Hygienekonzepten, um einen guten Unterricht zu ermöglichen. "Halber Unterricht, doppelte Hausaufgaben ist zu kurz gedacht", sagte er der Düsseldorfer "Rheinischen Post". Virusausbrüche in Schulen seien nicht ausgeschlossen.
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) beobachtet die Öffnungsschritte in den Kindertageseinrichtungen mit großer Sorger. Dabei kämen die Belange des Arbeits- und Gesundheitsschutzes für die Beschäftigten zu kurz, heißt es in einer Mitteilung vom 19. Mai. "Nur, wenn ausreichend pädagogisches Fachpersonal zur Verfügung steht und die Beschäftigten und Kinder wirksam geschützt werden, kann die Erweiterung des Kita-Angebots gelingen", betonte die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle.
Allen Beteiligten sei klar, dass die Mütter und Väter auf eine Ausweitung der Kindertagesbetreuung dringend angewiesen seien, um eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten. Dabei müsse jedoch der Arbeits- und Gesundheitsschutz der Beschäftigten, wie in jeder anderen Branche, sichergestellt sein.
"Momentan erleben wir Beispiele wie durch unverantwortliches Handeln Kinder, Eltern und die Beschäftigten gefährdet werden. Statt in kleinen Gruppen wird in den Kitas teilweise mit Gruppengrößen, bis hin zum Normalumfang gearbeitet", kritisierte Behle. "Damit werden alle Empfehlungen, die einer Reduzierung des Infektionsrisikos Rechnung tragen, ignoriert."
Der Pandemieschutz verlangt, dass Kinder nur wenig Zeit in der Kita verbringen, da sonst Gruppen zu groß sind und ein Schutz nicht mehr ausreichend gewährleistet werden kann.
"Kinder brauchen Kinder und sollen auch wieder in ihre Kitas. Deshalb haben wir ein 4-Stundenmodell oder Halbtagsmodell vorgeschlagen", teilte der Verband Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder (VETK) am 19. Mai mit. Das biete die Möglichkeit, Kindern in zwei Schichten aufzunehmen: vormittags und nachmittags. "So stellen wir kleingruppenbezogene kontinuierliche Betreuung sicher und helfen damit perspektivisch allen Eltern", erläuterte Geschäftsführerin Astrid Engeln.
Mit einem solchen Modell werde gewährleistet, dass sich die Kinder in die veränderte Situation der Kita besser eingewöhnen können. Denn derzeit sei der Alltag in den Kitas anders, als die Kinder es gewohnt sein. Sie könnten sich nicht mehr so frei in der Einrichtung bewegen, müssten in einem Gruppenraum bleiben, könnten nicht die Freunde aus den anderen Gruppen treffen und hätten möglicherweise keinen Kontakt zu ihrer Bezugserzieherin, hieß es.