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Landgericht

Högel-Prozess: Die Zeugen und ihre Erinnerungslücken




Ex-Pfleger Niels Högel vor Gericht in Oldenburg
epd-bild/Julian Stratenschulte/dpa-Pool
Der vermutlich größte Mordprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte nähert sich seinem Ende. Nach den zum Teil sich widersprechenden Zeugenaussagen muss das Gericht urteilen, ob Niels Högel wirklich aus Geltungssucht 100 Menschen ermordet hat.

Im Mordprozess gegen den früheren Krankenpfleger Niels Högel hat Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann beim 21. Prozesstag am 16. Mai ihr Plädoyer für die Anklage gehalten. Sie forderte eine Verurteilung wegen 97 Morden. In drei Fällen sei Högel jedoch aufgrund mangelnder Beweise freizusprechen, sagte Schiereck-Bohlmann in ihrem Schlussvortrag vor dem Landgericht Oldenburg.

Ursprünglich hatte die Anklage Högel vorgeworfen, aus Geltungssucht zwischen den Jahren 2000 und 2005 in Oldenburg 36 und in Delmenhorst 64 Patienten vergiftet zu haben. Anschließend habe er versucht, seine Opfer zu reanimieren, um vor den Kollegen als kompetenter Retter zu glänzen. Högel hat bislang 43 der 100 Mordvorwürfe eingeräumt. Das Urteil soll am 6. Juni verkündet werden.

Unterschiedliches Erinnerungsvermögen

Die Wahrheitsfindung ist schwierig: Auffällig war im Prozessverlauf das sehr unterschiedliche Erinnerungsvermögen der Kollegen aus Delmenhorst und Oldenburg. Vor allem viele der Oldenburger Pflegekräfte und Ärzte beriefen sich auf Erinnerungslücken. Fast alle von ihnen waren mit einem von ihrem Arbeitgeber bezahlten Rechtsbeistand gekommen. Etliche Kollegen schilderten Högel lediglich als kompetenten und lebensfrohen Menschen. An frühere Aussagen bei der Polizei konnten sie sich nicht mehr erinnern, auch nicht, nachdem ihnen diese nochmals vorgelesen wurden.

Für Prozessbeobachter war die große Verunsicherung der Zeugen geradezu spürbar. Nach und nach wurde deutlich, dass etliche von ihnen zumindest ahnten oder befürchteten, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Spitznamen wie "Sensen-Högel", "Pechvogel" oder "Rettungs-Rambo" waren auf den Stationen geläufig. Pfleger und Schwestern ermahnten sich gegenseitig, auf die Patienten aufzupassen. Ein Stationsleiter führte eine Strichliste mit Reanimationen, die einsam von Högel angeführt wurde.

Warnung vor Rufmord

Doch wer seine Bedenken an Vorgesetzte weitergab, bekam Ärger. Eine Krankenschwester berichtete, wie sie ihrem Chef ihren Verdacht meldete: Doch der habe sie zurechtgewiesen und gefragt, ob sie noch den Belastungen auf einer Intensivstation gewachsen sei. Eine Kollegin, der sie sich anvertraute, habe sie vor einem Rufmord gewarnt: "Da habe ich geschwiegen."

Eine weitere Kollegin Högels erstarrte im Zeugenstand fast vor Angst. Sie wand sich, verstrickte sich in Widersprüche. Erst freundlich, dann immer strenger werdend ermahnte sie Richter Sebastian Bührmann zu "wahrhaftigen Aussagen". Schließlich forderte er die Frau auf, ihre Hand zum Eid zu erheben. Eine Falschaussage unter Eid kann mit mehreren Jahren Gefängnis bestraft werden.

Unter Tränen bat die Frau, nicht vereidigt zu werden. Sie habe furchtbare Angst, für die Taten Högels mitverantwortlich gemacht zu werden. Von heute aus betrachtet, stelle sich die damalige Situation ganz anders dar als damals. Sie wisse nicht, was sie sagen oder nicht sagen dürfe. Bührmann verzichtete daraufhin auf die Vereidigung. "Ich sehe, dass Sie am Rande dessen sind, was Sie körperlich und gesundheitlich ertragen können", sagte er.

Meineid-Verfahren laufen

Andere Zeugen vereidigte der Richter, weil er ihren Aussagen nicht glaubte. Gegen acht Ärzte und Pflegekräfte leitete die Staatsanwaltschaft ein Meineid-Verfahren ein.

Für mehr Klarheit hätten vor allem der Stationsleiter, der Chefarzt, die Pflegedirektorin und der damalige Geschäftsführer des Oldenburger Klinikums sorgen können. Doch sie verweigerten die Aussage, um sich nicht selbst zu belasten. Gegen vier leitende Mitarbeiter aus Delmenhorst wurde bereits Anklage wegen Totschlags durch Unterlassen erhoben, gegen weitere Vorgesetzte aus Oldenburg ermittelt die Staatsanwaltschaft noch. Bei einem Schuldspruch drohen ihnen bis zu fünf Jahre Haft.

Högel selbst verfolgte die Zeugenvernehmungen scheinbar emotionslos. Zu Beginn des Prozesses räumte er 43 Mal den Mordvorwurf ein. Fünfmal wies er die Anschuldigungen zurück. 52 Mal sagte er aus, er könne sich nicht an den Patienten erinnern, "aber ich will nicht ausschließen, dass ich da manipuliert habe". Diesen Zusatz vergaß er nie.

Zu Beginn des 21. Prozesstages hatte das Gericht einen Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen den Medizin-Professor Wolfgang Koppert zurückgewiesen. Der Gutachter hatte bei seiner Vernehmung gesagt, er könne sich vorstellen, dass Högel weitere Morde begangen habe, die bisher nicht nachzuweisen seien. Die Verteidigung hatte sah darin eine Voreingenommenheit.

Az.: 5Ks 1/18

Jörg Nielsen