Ausgabe 35/2017 - 01.09.2017
Versmold (epd). Die Verbindung von Religion und Medizin ist uralt. Auch die Krankenhäuser von heute haben christliche Wurzeln und knüpfen an die Tradition der kirchlichen Hospitäler an. Diese Häuser folgten dem Motiv der Barmherzigkeit und bildeten einen Schutzraum für Bedürftige. Seither ist viel Zeit vergangen, und die Pesthäuser vor den Toren der Städte gehören glücklicherweise der Vergangenheit an. Und noch etwas: Die Kirchen sind längst nicht mehr die einzigen Akteure innerhalb der Krankenhauslandschaft. Sie handeln in einem harten wirtschaftlichen Wettbewerb - auch mit profitorientierten Unternehmen.
Im Wettbewerb müssen sich auch die evangelischen Krankenhäuser behaupten und sich dabei den ökonomischen Realitäten und Zwängen unterwerfen. Aus der Patientenperspektive weckt diese Entwicklung jedoch Sorgen und Ängste vor einer "entmenschlichten" Medizinindustrie. Schon heute steht immer wieder der Vorwurf im Raum, die kirchlichen Krankenhäuser seien Wirtschaftsunternehmen, die sich von privaten Klinikkonzernen kaum mehr unterschieden.
Zukunftsforscher und Medien zeichnen in diesem Zusammenhang ein eher düsteres Bild vom Krankenhaus der Zukunft. Sie beschreiben industrialisierte Untersuchungs- und Behandlungsfabriken, die nur noch den Gesetzmäßigkeiten der Geldflüsse folgen. Was hätte das noch mit Kirche zu tun? Was, wenn eines Tages nur noch das Kreuz über der Tür daran erinnert, dass man in einem kirchlichen Krankenhaus liegt?
Wir nähern uns langsam den Herausforderungen des demografischen Wandels. Die sozialen Sicherungssysteme werden weiter unter Druck geraten, und schon bald werden Hunderttausende von Fachkräften im Gesundheitswesen fehlen. In der Folge werden immer weniger Menschen immer mehr Patienten und Pflegebedürftige versorgen müssen. Personale Zuwendung wird also zu einem knappen Gut. Zudem werden Digitalisierung, Gen- und Biotechnologie nicht nur Segen bringen, sondern gleichzeitig eine Vielzahl ethischer Fragen aufwerfen.
Im Gesundheitswesen der Zukunft wird es den Kirchen an Aufgaben und Herausforderungen also nicht mangeln. So wäre es sicher auch nicht im Interesse der Patienten, wenn die Stimme der Kirchen in der Flut unterschiedlicher Partikularinteressen des Gesundheitssystems verstummen würde.
Die Stimme muss aber natürlich auch hörbar sein - Patienten müssen einen Unterschied spüren können. Was aber, wenn eben dieser Unterschied immer häufiger auf der Strecke bleibt und die Verwirklichung christlicher Werte wirtschaftlichen Zwängen weichen muss? Die fortschreitende Ökonomisierung des Gesundheitswesens lässt den kirchlichen Krankenhäusern hier keine Wahl - oder vielleicht doch?
Als der barmherzige Samariter das Opfer eines Gewaltverbrechens an der Straße zwischen Jerusalem und Jericho findet, beweist er großen Weitblick: Er gießt Öl und Wein auf die Wunden, verbindet ihn und bringt ihn in eine Herberge. Aber mehr noch: In der Herberge nimmt er sich Zeit, pflegt den Mann und kümmert sich um ihn. Anschließend verhandelt er für den Mann mit dem Herbergsvater über den weiteren Verbleib und die Versorgung des Mannes und hinterlässt zwei Silbergroschen für entstehende Kosten. Der Samariter hat sich nicht nur um die Akutversorgung der Wunden gekümmert. Er hat sich dem Kranken zugewandt und ihn in seiner Not aufgefangen.
Auch heute bildet die stationäre Akutversorgung nur ein Glied in der Versorgungskette. Zuvor sind die Patienten erkrankt und haben bis zur stationären Aufnahme vielleicht schon eine Vielzahl von Instanzen durchlaufen. Möglicherweise haben sie auch einen Unfall erlitten und wurden aus ihren Lebenswelten herausgerissen. Nach dem Krankenhaus folgt dann vielleicht eine Rehabilitationsmaßnahme, die Nachsorge, vielleicht auch Pflege - oder die letzte Meile bis zum Ende des Lebens.
Das Krankenhaus ist auf dem Weg durch das Gesundheitswesen also häufig nur eine Station von vielen. Umso wichtiger erscheint es, die Lebenswelten vor und nach dem stationären Aufenthalt mitzudenken. Auch der Samariter hatte den ganzen Weg seines "Patienten" vor Augen. Vielleicht liefert dieser Weitblick eine Inspiration für den Unterschied, den kirchliche Krankenhäuser machen können.
Wer könnte Patienten besser auffangen als die Kirchen? Für die Diakonie und die Caritas arbeiten rund eine Million hauptamtliche Mitarbeiter. Kein anderer Akteur verfügt über solch ein Netzwerk im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens. Dahinter stehen Hunderttausende von Unterstützungs-, Hilfs- und Beratungsangeboten, die die medizinische Behandlung und Versorgung komplementär ergänzen.
Ein weiterer Aspekt, in dem evangelische Krankenhäuser einen Unterschied machen können, betrifft die Einbeziehung der Patienten und Angehörigen. Wir leben heute in einer Zeit, in der die Medizin den "benevolenten Paternalismus" langsam überwindet. Nicht allein der Arzt weiß, was gut für den Patienten ist. Der Patient hat ein Recht auf eine informierte und partizipative Entscheidungsfindung. Er hat ein Recht auf Autonomie, Selbstbestimmung und Respekt.
Diese Überwindung einer patriarchalischen Gesundheitsversorgung ist ein zutiefst protestantisches Ansinnen: Patienten dürfen selbst denken und entscheiden und müssen sich nicht diktieren lassen, was zu ihrem besten ist. Selbstbestimmung und Patientenautonomie könnten folglich als Leitbild dazu beitragen, das Profil evangelischer Krankenhäuser weiter zu schärfen.
In enger Verbindung damit steht die Kommunikation mit den Patienten. Eine aktuelle Studie der Universität Bielefeld hat gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Deutschen erhebliche Probleme hat, mit gesundheitsrelevanten Informationen umzugehen. Die Weltgesundheitsorganisation hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass diese Menschen nicht nur eine deutliche höhere Rate an Krankenhauseinweisungen aufweisen. Sie haben auch höhere Risiken in Bezug auf Fehlbehandlungen und Komplikationen und weisen höhere Morbiditätsraten und vorzeitige Sterbefälle auf.
Eine verständliche und an die Lernvoraussetzungen der Patienten angepasste Information, Aufklärung und Kommunikation ist also immer auch eine Frage gesundheitlicher Teilhabe. Würden evangelische Krankenhäuser an dieser Stelle einen spürbareren Unterschied machen, so wäre dies immer auch Ausdruck einer protestantisch geprägten Grundhaltung, die die Autonomie und Selbstbestimmung der Patienten achtet und niemanden ausschließt.
Natürlich lassen sich Einsparungen und ökonomische Zwänge nicht wegdiskutieren. Wenn diese aber der Verwirklichung christlicher Werte entgegenstehen und kranke Menschen zu Behandlungsobjekten werden lassen, dann sollte Kirche in guter protestantischer Tradition Partei für die Patienten ergreifen, sich einmischen, Missstände aufdecken und sich dabei von festgefahrenen Strukturen und Autoritäten nicht abschrecken lassen.
Kirchliche Krankenhäuser sind auch in der heutigen Zeit alles andere als überflüssig. Die Aufgaben und Herausforderungen sind vielfältig, und die Stimme der Kirchen ist wichtiger denn je. Die kirchliche Trägerschaft allein wird jedoch nicht ausreichen, um im Gesundheitssystem der Zukunft bestehen zu können. Stattdessen kommt es auf den Unterschied an, den kirchliche Krankenhäuser machen.
Diesen Unterschied gilt es, wieder stärker herauszuarbeiten. Die Rückbesinnung auf unsere christlichen Werte, aber auch die Ideen der Reformation können uns dabei die Richtung weisen. Der Arzt und Kabarettist Dr. Eckart von Hirschhausen hat es auf den Punkt gebracht: "Wir brauchen keine Gesundheitsreform, wir brauchen eine Gesundheitsreformation!"