Ausgabe 51/52/2016 - 23.12.2016
Karlsruhe (epd). Anne Becker (Name geändert) sagt von sich, sie sei sehr gläubig. "Sonst könnte ich das alles nicht überstehen." Ihr erster Mann verließ sie für eine jüngere Frau, der zweite wurde zum Trinker. Ihr ältester Sohn hat den Kontakt abgebrochen, weil ihm alles zu kompliziert war, und der jüngere ist psychisch krank. Becker erzählt, sie habe alle Möglichkeiten ausgeschöpft, dem 44-jährigen depressiven Sohn zu helfen.
"Mein Sohn hat Angst vor dem Leben, vor allem. Er hält sich für einen Versager", sagt die 68-jährige Karlsruherin. Sie rief er an, wenn er nachts auf den Gleisen stand. Becker beruhigte ihn immer oder gab ihm ihren vorletzten Euro - bis sie im August vergangenen Jahres selbst ihre Miete nicht mehr zahlen konnte. Vier Wochen lebte sie auf der Straße, bis sie in der Sozialpension Augustiner in Karlsruhe ein Zimmer bekam. Seitdem sucht sie fieberhaft ein neues Zuhause.
Die Adventszeit war für sie immer die Zeit, in der sich die Familie zusammensetzt. "Ich erinnere mich oft an meine Kindheit, ich habe viel mit meiner Mutter gebacken und gebastelt, mit meinen eigenen Kindern auch", blickt Becker zurück.
Die Weihnachtszeit nicht zu zelebrieren, weil das alles nicht mehr ist, kommt der geborenen Pforzheimerin aber nicht in den Sinn. Auf dem Flohmarkt hat sie sich einen kleinen Weihnachtsplastikbaum für drei Euro gekauft. Ein Verkäufer hat ihr ein Paar rote Nikolausstiefel geschenkt und neben ihrem Bett steht eine Schneekugel.
Für viele Menschen ohne eigenes Heim sei Weihnachten ein Wechselbad der Gefühle, sagt Karin Mönig, Leiterin der Sozialpension, in der rund 30 Menschen vorübergehend untergebracht sind. Gerade bei Frauen, denen das Jugendamt die Kinder weggenommen habe, kämen die negativen Gefühle hoch. "Manche weinen jeden Tag, andere drohen, sich aus dem Fenster zu stürzen", sagt sie.
Am 24. Dezember gehen viele der Obdachlosen in die Kirche oder besuchen eine der Weihnachtsfeiern in der sozialen Einrichtungen. Eine dieser Weihnachtsfeiern organisiert der Evangelische Verein für Stadtmission in Karlsruhe, wie der Seelsorger Markus Borchardt sagt: "Nachmittags wird es Stollen und eine Andacht geben, abends essen wir traditionell Bockwurst mit Kartoffelsalat, und jeder bekommt eine 'Geschenktüte', die ein Karlsruher gepackt hat." Jedes Jahr kämen über 300 Menschen. "Ich glaube, viele fühlen sich in der Weihnachtszeit noch mehr als sonst als 'Verlierer'", sagt Borchardt. "Auf der Feier können sie lustig sein oder sich einander das Herz ausschütten, das hilft ihnen."
Einen anderen Ansatz zu helfen, hat die Wohnungslosenhilfe des Caritasverbands Baden-Baden gefunden. "Bei uns gibt es einen Wunschweihnachtsbaum", erzählt der Fachbereichsleiter Christian Frisch. Jeder Obdachlose schreibe auf einen Zettel einen Wunsch und hänge ihn an den Baum. Bürger der Stadt Baden-Baden kauften das Geschenk und geben es in der Wohnungslosenhilfe ab.
Auf der Weihnachtsfeier, die im Gemeindehaus Oos stattfindet, gibt es die Bescherung, sagt Frisch. Auf den Wunschzetteln stehen in diesem Jahr unter anderem: "ein Hundepulli, Größe M, wenn möglich in rosa", "ein Waffeleisen für belgische Waffeln", "ein Seniorenhandy", "Liebesromane", "Unterwäsche", "warme Handschuhe" und ein "Nassrasierer".
In Heidelberg organisiert die Wohnungslosenhilfe des Katholischen Vereins für soziale Dienste eine Weihnachtsfeier im Karl-Klotz-Haus: "Um 11 Uhr findet eine Andacht statt und anschließend essen wir Frikadellen mit Rotkraut und Kartoffelpüree", sagt der stellvertretende Geschäftsführer Matthias Meder. Er rechnet mit siebzig bis achtzig Gästen.
Becker wird an Heiligabend in die Kirche gehen, sagt sie. Wahrscheinlich, wenn der Kinderchor singt, und vielleicht wird sie mitsingen. Danach wird sie sich die Bettdecke über den Kopf ziehen und sich wünschen, dass es ihrem kranken Sohn besser gehe.