

Mainz (epd). Im Kopf, am Herz oder gar in der Luft neben dem Körper: Die Zehntklässler der Mainzer Integrierten Gesamtschule Auguste Cornelius sind sich nicht ganz sicher, wo genau sich eigentlich die menschliche Seele befindet. Wenn Leonie Schweigert eine Schulklasse besucht, hängt sie erst einmal ein großes Blatt Papier mit dem Umriss einer menschlichen Figur auf und bittet darum, die richtige Stelle mit einem roten Punkt zu markieren. Die Frage ist ein Einstieg bei den Projekttagen über psychische Erkrankungen, die unter dem Titel „Verrückt? Na und!“ bundesweit in Schulen angeboten werden.
Depressionen, Angstzustände oder Burnout gehören in der Bundesrepublik zum Alltag von Kindern und Jugendlichen. Jeder sechste ist Schätzungen zufolge selbst betroffen. Und mehr als vier Millionen junge Menschen leben in Familien mit mindestens einem psychisch kranken Elternteil. Dennoch bleibt das Thema weitgehend tabu, viele Jugendliche wissen nicht, wie sie darüber sprechen sollen und wo sie sich selbst Hilfe holen können.
Das Besondere an dem vor fast 25 Jahren von dem in Leipzig ansässigen Verein „Irrsinnig menschlich“ entwickelten Konzept der Schulbesuche ist, dass immer Zweierteams zu den Klassen kommen und gemeinsam durch den Tag führen. Einer der beiden Gäste ist ein Fachmann oder eine Fachfrau für das Thema, der zweite selbst betroffen. Doch das erfahren die Schulklassen erst gegen Ende der Veranstaltung. Es gehe darum zu vermitteln, dass psychisch Kranke ganz normale Leute seien, sagt Schweigert, die für das Sozialunternehmen gpe Besuchstage in der Region Mainz veranstaltet.
Die Arbeit sei für ihn ein „totales Herzensprojekt“, berichtet Chris Elias Bruns, der fünf bis sechs Mal pro Jahr ehrenamtlich an Besuchen teilnimmt, um von seiner eigenen psychischen Erkrankung zu berichten - und davon, wie er sie mit professioneller Hilfe in den Griff bekam. Selbst sei er auf dem Dorf aufgewachsen, wo über psychische Probleme niemand gesprochen habe. „Die Psychiatrie war lange mein zweites Zuhause“, berichtet er den Jugendlichen freimütig. Seine besten Freunde habe er übrigens dort gefunden.
Oft gebe es einen regelrechten Aha-Effekt in den Klassen, schildert Leonie Schweigert ihre Erfahrungen. Im Gedächtnis geblieben sei ihr ein Junge, der sich bei einem Schulbesuch anfangs wie der Klassenclown aufgeführt und das Thema pausenlos ins Lächerliche gezogen habe. Als ihm klar wurde, dass einer der Besucher gerade über sein eigenes Leben berichtet hatte, habe er mit Tränen in den Augen um Entschuldigung gebeten. Regelmäßig würden Jugendliche in den anonymen Rückmeldebögen schreiben, sie selbst hätten sich bislang nicht getraut, über ihre eigenen Probleme zu sprechen.
Der Bedarf an Präventionsarbeit bei Jugendlichen sei seit der Coronavirus-Pandemie noch größer geworden, sagt die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD). Aber auch die anderen Krisen der Gegenwart hätten Auswirkungen auf die Psyche junger Menschen. Psychische Gesundheit sei ein klassisches Querschnittsthema, das an vielen Stellen im regulären Unterricht thematisiert werden könne. Aber es eigne sich besonders gut, um auch externe Kräfte an die Schulen zu holen, lobt sie den Ansatz des Projekts. Denn die könnten einfacher mit den Schülergruppen ins Gespräch kommen: „Eine Lehrkraft kann sich schlecht vor die Klasse stellen und sagen: Ich habe Depressionen.“
In Rheinland-Pfalz stehen Politik und Krankenkassen hinter dem Präventionsprojekt „Verrückt? Na und!“. Hinter der Bereitschaft, die Arbeit für den Zeitraum bis 2028 mit rund 350.000 Euro zu finanzieren, steht auch die Erkenntnis, dass psychische Erkrankungen sich mit der Zeit verschlimmern und die Behandlungskosten explodieren können, wenn die Versorgung nicht rechtzeitig beginnt.