

Frankfurt a.M. (epd). „Hättest du eigene Kinder, dann wüsstest du, dass…“ - so beginnt der Satz, den Alexander Stolle schon oft in seinem Leben gehört hat. Ein Satz, der den 54-Jährigen gleich mehrfach trifft. Es verdeutlicht dem Berliner Single schmerzhaft, dass sein Wunsch nach Vaterschaft bisher unerfüllt geblieben ist. Und er spricht ihm jegliche Kompetenz beim Thema Kindererziehung ab. Dabei ist er mehrfacher Onkel und hat im großen Freundes- und Familienkreis viele Kinder beim Aufwachsen begleitet, wie er erzählt: „Es versetzt mir einen Stich, wenn mein Cousin mir strahlend ein neues Foto seines Sohnes zeigt.“ Er sei der einzige Kinderlose in seinem Umfeld.
Eine repräsentative Studie des Bundesfamilienministeriums ergab 2020, dass in der Gruppe der kinderlosen Frauen und Männer zwischen 20 und 50 jeder dritte wie Alexander Stolle ungewollt kinderlos ist. Bei Frauen ist der Anteil von 2013 bis 2020 um sechs, bei Männern um acht Prozentpunkte gestiegen. Befragt wurden über 10.000 Menschen.
Dass auch Männer unter Kinderlosigkeit leiden, das kommt in der öffentlichen Wahrnehmung oft zu kurz, meint Psychologe Tewes Wischmann. Er hat über 30 Jahre lang zu den psychologischen Aspekten von Kinderlosigkeit geforscht und war Projektleiter der Studie „Heidelberger Kinderwunsch-Sprechstunde“. „Ende der 1980er Jahre wurden zu den Beratungsangeboten meist nur Frauen eingeladen. Wir haben dann bewusst auch Männer adressiert“, erzählt der 68-Jährige.
Seine Beobachtung: Männer leiden unter unerfülltem Kinderwunsch genauso wie Frauen. Die Gesellschaft suggeriere Männern aber, dass sie länger Vater werden könnten als Frauen Mutter. Dabei nehme auch beim Mann die Fruchtbarkeit als dem 45. Lebensjahr ab und das Risiko für Fehlgeburten steige, sagt Wischmann.
Unter den Befragten des Bundesministeriums gaben bis zum 34. Lebensjahr fast gleich viele Frauen und Männer an, ungewollt kinderlos zu sein. Ab 35 Jahren nimmt der Anteil der Männer zu und der der Frauen ab. In der Altersgruppe 45 bis 50 Jahre ist der Anteil ungewollt Kinderloser bei Männern viermal so hoch wie bei Frauen.
Auch bei Alexander Stolle wurde der Kinderwunsch mit zunehmendem Alter stärker. Nach der Schule wollte er sich erst einmal nicht binden. Seiner zweiten Freundin machte er einen Heiratsantrag. Kurz darauf trennten sie sich. „Ich habe über zehn Jahre gebraucht, diesen Herzschmerz zu verarbeiten“, erzählt der Berliner. Die nächste Beziehung hielt acht Jahre und blieb ebenfalls kinderlos. „Plötzlich steht man da, ist 50 Jahre alt und allein“, sagt er.
Der Aussage „Kein Kind zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als Makel“ stimmten in der Befragung des Bundesministeriums 39 Prozent der Befragten zu, 19 Prozent mehr als noch 2013. Das sei auch ein Indikator für die gestiegenen Diskriminierungserfahrungen von ungewollt Kinderlosen, resümiert die Studie. Auch Alexander Stoll hat die Erfahrung gemacht: Die Gesellschaft suggeriere ihm, dass Kinderlosigkeit ein Makel sei.
56 Prozent der befragten Männer gaben zudem an, dass Vaterschaft zum Mannsein dazu gehöre. „Bei Männern ist ungewollte Kinderlosigkeit oft auch sexuell konnotiert und es werden häufig sexuelle Funktionsstörungen unterstellt“, berichtet Psychologe Wischmann.
Bei Familienfesten sitzt Alexander Stolle auch schon einmal am Kindertisch oder allein am Ende der Tischplatte. „Man fühlt sich ausgeschlossen und wie der Depp vom Dienst“, so empfindet er es dann. Die Einsamkeit habe ihm vor allem in der Corona-Pandemie zugesetzt, als sich alle in die Kernfamilien zurückgezogen hätten.
Aber es geht es ihm nicht nur um Gemeinschaft, sondern auch darum, ein Kind zu begleiten zu können, in seiner Entwicklung zu erleben und zu unterstützen. Er müsse immer an den Song „Haus am See“ von Peter Fox denken, in dem der Sänger von seinen Kindern und Enkeln singt, die vorbeikommen und zusammen spielen. „Ich würde gerne stolz auf meine Kinder sein und ihnen das auch vermitteln.“ Ein Gefühl, das er selber in seiner Kindheit vermisst habe.
Sprüche aus dem Umfeld wie „Dann genieß doch deine Freiheit“ bagatellisierten die Gefühle ungewollt Kinderloser, sagt Psychologe Wischmann. „Das ist eine existenzielle Krise, die auch in einem Trauerprozess münden kann.“ Der Experte empfiehlt Betroffenen, sich bewusst mit der finalen Kinderlosigkeit auseinanderzusetzen. Wichtig sei, sich neue Ziele zu setzen und sich nicht zu isolieren - damit die Situation nicht in Einsamkeit münde.
Alexander Stolle ist nach der Corona-Zeit als Geschäftsführer eines Appartement-Hotels beruflich noch einmal durchgestartet. Beim Thema Kinderwunsch hat er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. „Ich rechne aber auch nicht mehr damit“, gibt er zu. Er wünscht sich von seinem Umfeld vor allem mehr Verständnis und Empathie. „Die Männer meiner Generation sind darauf konditioniert, stark zu sein. Das bedeutet nicht, dass wir es immer sind.“