sozial-Branche

Inklusion

Gastbeitrag

Vision: Gleiche Chancen auf Teilhabe




Tobias Schmidt
BAG BBW/Jakob Hoff
Die Wirtschaft braucht Fachkräfte, und die Berufsbildungswerke können sie ausbilden. Doch damit das noch effektiver geschieht, braucht es Reformen, nicht nur in den Werkstätten für behinderte Menschen. Worauf es künftig dabei ankommt, erläutert Tobias Schmidt, Vorstandsvorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke, im Gastbeitrag für epd sozial.

Unsere Vision für einen inklusiven Arbeitsmarkt lautet: Menschen mit Behinderungen sollen die gleichen Chancen auf berufliche Teilhabe haben wie alle anderen. Das muss die Bundesregierung sich endlich konsequent zu eigen machen.

Berufsbildungswerke spielen bei der Umsetzung dieser Vision eine wesentliche Schlüsselrolle. Jedes Jahr qualifizieren Berufsbildungswerke 16.000 junge Menschen mit Behinderungen in über 200 dualen Ausbildungsberufen. Die Ergebnisse sprechen für sich: 89 Prozent bestehen ihre Abschlussprüfungen vor den Handwerks- und Industrie- und Handelskammern. Was uns besonders freut: 84 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind mit ihrer Ausbildung schon jetzt sehr zufrieden. Diese Quote wollen und müssen wir noch deutlich steigern.

Noch immer keine Chancengleichheit auf dem Jobmarkt

Unsere Angebote wirken - hinsichtlich der Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sowie für die ganz persönliche soziale Entwicklung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Nach 15 Jahren UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit Behinderungen jedoch bis heute nicht die gleichen Chancen im Berufsleben wie Menschen ohne Behinderung.

Das liegt an vielen Faktoren. Zu ihnen gehören etwa leider immer noch die fehlende Willkommenskultur bei Unternehmen beziehungsweise deren Bereitschaft, die Potenziale von Menschen mit Behinderungen zu erkennen und sie nach ihren Stärken einzusetzen. Aber auch unser stark gegliedertes Reha-System mit seiner starren Zuweisungspraxis trägt einen Anteil an dieser Situation. Vor allem der Übergang von der Schule in eine berufliche Qualifizierung ist ein zentraler Knotenpunkt in der Berufsbiografie von uns allen. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen werden schwerpunktmäßig - um nicht zu sagen automatisiert - in eine Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) zugewiesen. Nach dem Berufsbildungsbereich gehen die meisten in den Arbeitsbereich der WfbM über. Weniger als ein Prozent der Beschäftigten wechseln im Laufe der Jahre aus diesem auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Selbst für diejenigen, die mehr können und mehr wollen, wird die WfbM damit oft zur beruflichen Sackgasse.

System der Werkstätten modernisieren

Fakt ist: Die Modernisierung des Systems der Werkstätten für behinderte Menschen steht weiterhin aus, das muss die neue Bundesregierung angehen. Dafür macht die BAG BBW konkrete Vorschläge: Die berufliche Bildung im Rahmen des Rechtsanspruchs der Leistungsberechtigten mit behinderungsbedingten Nachteilsausgleichen muss personenzentriert konzipiert und der Zugang zur Förderung berufsvorbereitender Maßnahmen angepasst werden. Wir halten es für richtig, den Vorrang der Prüfung von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen vor der Zuweisung in den Berufsbildungsbereich der WfbM in der Verwaltungspraxis verbindlich zu verankern. Mit der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme kann der Einstieg in Ausbildung und Arbeit nachhaltig gelingen.

Zudem muss es zur gängigen Praxis werden, dass Teilnehmende im Berufsbildungsbereich der WfbM fortlaufend die Chance auf einen Wechsel in eine mindestens Fachpraktikerausbildung in einem BBW oder eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erhalten. Dazu ist eine regelmäßige und konsequente Überprüfung der Leistungsfähigkeit und Motivationsbereitschaft der betreffenden Menschen nötig.

Wirtschaft braucht gut ausgebildete Fachkräfte

Der Wirtschaftsstandort Deutschland steht vor sehr vielen Herausforderungen: Der Bedarf an Arbeits- und Fachkräften steigt, Tausende Lehrstellen sind unbesetzt und gleichzeitig steigt die Zahl der Menschen ohne Berufsabschluss. Fast 2,9 Millionen junge Menschen haben keinen Berufsabschluss, und insgesamt sind mehr als 4,5 Millionen Beschäftigte ohne abgeschlossene Ausbildung in den Arbeitsmarkt eingetreten. Immer mehr Jugendliche mit schwierigen Lebenssituationen oder multiplen Problemlagen drohen verloren zu gehen. Diese Zahlen hat kürzlich der Deutsche Gewerkschaftsbund vorgelegt.

Wir können diesen Negativtrend als Gesellschaft nicht einfach so hinnehmen, wir müssen konsequent an Lösungen arbeiten - im Kleinen wie im Großen. Berufsbildungswerke können dazu einen konkreten Beitrag zur Trendwende leisten. Schon heute geben sie jungen Menschen mit Behinderungen eine Ausbildungschance, auch wenn sie bei Ausbildungsstart noch keinen Schulabschluss haben. Denn im BBW wird nicht nur ausgebildet, die meisten haben eigene Berufsschulen oder kooperieren mit inklusiv ausgerichteten Berufsschulen. Diese Kombination trägt wesentlich zum Ausbildungserfolg in Berufsbildungswerken bei.

„Strukturen der Berufsbildungswerke nutzen“

Die neue Bundesregierung muss vor dem Hintergrund dieser alarmierenden Zahlen vorhandene Strukturen wie die der Berufsbildungswerke mit ihren bundesweit 51 Standorten nutzen. Sie stehen bereit, so viele Menschen wie möglich bis zum erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu bringen. Dafür müssen die Qualifizierungsangebote der BBW für möglichst viele junge Menschen mit Teilhabeeinschränkungen, für die eine betriebliche Ausbildung noch nicht möglich ist, geöffnet werden.

Um als Ausbildungseinrichtungen zukunftsfähige Angebote vorzuhalten, sind staatliche Investitionen notwendig. Es geht nicht um pauschal mehr Geld, sondern um gezielte Förderungen von nachhaltigen Innovationskonzepten, die unsere Arbeit als Reha-Einrichtungen langfristig stärken. Die Herausforderungen des Arbeitsmarktes machen die kontinuierliche Weiterentwicklung unserer Reha-Angebote unerlässlich.

Hinderlich für eine optimale berufliche Förderung von Menschen mit Behinderungen ist die aktuelle Ausschreibungspraxis der Jobcenter und der Bundesagentur für Arbeit. Ausschreibungen, die auf Preisdumping setzen, benachteiligen qualitativ hochwertige Anbieter und gefährden somit die Qualität der Dienstleistungen. Wir halten daher eine Reform der Ausschreibungs- und Vergabepraxis für zwingend erforderlich. Nur hochwertige Reha-Bildungsangebote können gut ausgebildete Arbeits- und Fachkräfte hervorbringen, die wir in allen Bereichen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt so dringend brauchen. Dafür reicht Geld alleine nicht, sondern vor allem die Entschlossenheit, sich von bisherigen Verwaltungshandeln zu verabschieden und innovative Wege zu beschreiten.

Tobias Schmidt ist Hauptgeschäftsführer der BBW-Leipzig-Gruppe und Vorstandsvorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke (BAG BBW)