

Berlin (epd). Die nächste Regierung wird sich sofort mit der Finanzierung der Altenpflege beschäftigen müssen. In welchem Ausmaß die Ausgaben der Pflegeversicherung weiterhin steigen werden, haben die Bremer Pflegeforscher Heinz Rothgang und Rolf Müller für den Barmer-Pflegereport 2024 errechnet, der am 18. November in Berlin vorgestellt wurde. Danach liegen die Ausgaben für die aktuell pflegebedürftigen Menschen um 50 Prozent über denen für kürzlich Verstorbene.
Gründe sind dem Report zufolge Leistungsausweitungen, Lohnerhöhungen für das Pflegepersonal und eine Verdopplung der durchschnittlichen Pflegedauer auf 7,5 Jahre. Außerdem steigt die Zahl der Pflegebedürftigen. Gegenwärtig sind es rund fünf Millionen Menschen, von denen rund vier Millionen zu Hause versorgt werden.
Rothgang und Müller haben auf der Datenbasis der Barmer-Versicherten errechnet, dass kürzlich Verstorbene im Durchschnitt 50.000 Euro aus der Pflegeversicherung erhalten haben. Für die aktuell Pflegebedürftigen müssen die Pflegekassen hingegen durchschnittlich mindestens 76.000 Euro ausgeben. Die Berechnungen beruhen auf den Preisen für Pflegeleistungen im Jahr 2023.
Rothgang erklärte, alle Maßnahmen, die zu den Kostensteigerungen führen, seien gut begründet und politisch gewollt. Dazu zählten die seit 2017 gewährten Hilfen für Demenzkranke, bessere Personalschlüssel und höhere Löhne für Pflegekräfte. Aber sie müssten auch finanziert werden. Die Erhöhung der Beiträge reiche allenfalls für das kommende Jahr.
Dem Report zufolge sind die Löhne für Pflegekräfte in den vergangenen acht Jahren doppelt so stark gestiegen wie in der übrigen Wirtschaft. Pflegeeinrichtungen müssen zudem seit Herbst 2022 Tariflöhne oder Löhne in ortsüblicher Höhe zahlen, was besonders die Kosten der Heimplätze in die Höhe treibt. Die Pflegeversicherung zahlt deshalb inzwischen Zuschüsse, die sich dem Report zufolge in diesem Jahr auf sechs Milliarden Euro summieren. Zum Vergleich: Durch die Beitragserhöhung um 0,2 Prozentpunkte auf 3,6 Prozent des Bruttoeinkommens nimmt die Pflegeversicherung im kommenden Jahr vier Milliarden Euro mehr ein.
Rothgang plädiert seit Jahren für eine Deckelung der Eigenanteile von Heimbewohnern. Er erinnerte daran, dass bereits der frühere CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn die Begrenzung der Zuzahlungen zu den reinen Pflegekosten auf 700 Euro vorgeschlagen habe. Heute liegt dieser Anteil deutlich über 1.000 Euro.
Die Ersatzkassen (vdek) haben ausgerechnet, dass Heimbewohnerinnen und -bewohner inzwischen mit Gesamtausgaben von über 3.100 Euro pro Monat im ersten Jahr des Aufenthalts belastet werden. Sie zahlen nicht nur für die reine Pflege dazu, sondern auch für Verpflegung, Unterkunft und Investitionskosten der Heimbetreiber. Durch den Zuschuss der Pflegekasse sinken diese Zuzahlungen zwar, betragen aber immer noch knapp 2.900 Euro pro Monat. Der Effekt sei binnen zwei Jahren durch die Preissteigerungen „komplett aufgezehrt“ worden, bilanzierte Rothgang.
Der Barmer-Vorstandsvorsitzende Christoph Straub forderte von der nächsten Bundesregierung eine sofortige und umfassende Finanzreform für die Pflege. Den Pflegekassen müssten die Milliardenausgaben während der Corona-Pandemie zurückerstattet werden. Die Rentenzahlungen für pflegende Angehörige und andere versicherungsfremde Leistungen müssten aus Steuern finanziert werden, sagte Straub. Er rechne nicht mehr damit, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nach dem Koalitionsbruch noch Eckpunkte für eine große Pflegereform vorlegen werde.
Maria Loheide, Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, sagte in Berlin: „Die Zeit der Notlösungen muss vorbei sein. Die großen Herausforderungen in der Pflege können nur mit einer umfassenden Pflegereform bewältigt werden.“ Sie erwarte vom Bund, „dass die Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung ausgebaut wird, in der Pflegebedürftige einen kalkulierbaren Eigenanteil leisten müssen“. Es werde höchste Zeit, dass eine Flexibilisierung der Leistungen und eine sektorübergreifende Versorgung möglich würden, bei der auch die Unterstützung der pflegenden Zu- und Angehörigen und die Zivilgesellschaft stärker in den Blick genommen werde. „Deshalb fordern wir die Bundestagsparteien auf, die Pflege als zentrales Vorhaben in ihren Wahlprogrammen zu verankern und in Regierungsverantwortung umzusetzen“, sagte Loheide.
VdK-Präsidentin Verena Bentele betonte, Deutschland brauche in der Pflege ein stabiles Finanzierungssystem. „Anstatt weiterer kurzfristiger Beitragserhöhungen aufgrund der drohenden Pleite der Pflegeversicherung ist eine klare und umfassende Reform nötig.“ Sie müsse das Ziel einer Pflegeversicherung für alle haben, in die alle Bürgerinnen und Bürger, also auch Beamtinnen und Beamte, Abgeordnete und Selbstständige, einzahlen. Und: „Die Beitragsbemessungsgrenze muss, ebenso wie die der Krankenversicherung, auf die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung angehoben werden.“
An der Aufgabe, die Pflegefinanzierung zu sichern, sei mindestens die dritte Bundesregierung in Folge gescheitert, sagte Kathrin Sonnenholzner, Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt. „Dabei liegen die notwendigen Maßnahmen und Konzepte längst auf dem Tisch: Versicherungsfremde Leistungen müssen aus Steuermitteln finanziert werden - einschließlich der über fünf Milliarden Euro Kosten, die in der Corona-Krise den Pflegekassen aufgebürdet wurden - und die Einnahmen der Pflegeversicherung müssen solidarisch und paritätisch im Umlagesystem erweitert werden.“
Auf diesem Weg gelänge auch eine Entlastung der pflegebedürftigen Menschen und ihrer Angehörigen vor finanzieller Überforderung. „Wenn die nächste Bundesregierung wieder nichts tut, werden das die Pflegebedürftigen und ihre Familien vermutlich nicht überstehen“, warnte die Verbandschefin.