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Karlsruhe (epd). Klinikärztinnen und -ärzte müssen eine erforderliche medizinische Kontrolluntersuchung auch nach der Entlassung des Patienten sicherstellen. Haben die Ärzte nicht die notwendigen Befunde veranlasst, kann ein Befunderhebungsfehler vorliegen, so dass die Klinik bei einem Gesundheitsschaden zu Entschädigungszahlungen verpflichtet sein kann, entschied der Bundesgerichtshof (BGH) in einem am 10. Juli veröffentlichten Urteil. In solch einem Fall greife dann die sogenannte Beweislastumkehr, so dass das Krankenhaus beweisen muss, dass der Gesundheitsschaden nicht auf die zu spät vorgenommene Kontrolluntersuchung zurückzuführen ist, erklärten die Karlsruher Richter.
Der Kläger wurde am 29. Juli 2016 in der 25. Schwangerschaftswoche als Frühchen geboren. Bei Frühgeborenen besteht ein erhöhtes Risiko für eine gestörte Blutgefäßentwicklung der Netzhaut und eine sich daraus entwickelnde Netzhautablösung. Erst bis zum Zeitpunkt des errechneten regulären Geburtstermins, hier der 10. November 2016, ist von einer normalen Ausbildung der Blutgefäße in der Netzhaut auszugehen.
Die behandelnden Ärzte einer niedersächsischen Klinik nahmen daher unmittelbar nach der Geburt regelmäßige augenärztliche Untersuchungen vor, zuletzt am 18. Oktober 2016. Ende Oktober 2016 wurde das Kind nach Hause entlassen. Die Ärzte empfahlen die nächste augenärztliche Kontrolluntersuchung in drei Monaten.
Doch dann wurde am 24. November 2016 in der Uniklinik Köln bei dem Kind eine Netzhautstörung diagnostiziert. Es erblindete auf dem rechten Auge, auf dem linken besteht eine hochgradige Sehbehinderung. Die Eltern des Klägers warfen der Klinik vor, dass sie nicht über die Wichtigkeit der zeitnahen Kontrolluntersuchung unterrichtet worden seien. Bei der Entlassung ihres Kindes hätte zwingend noch einmal eine Kontrolluntersuchung durchgeführt werden müssen. Eine Therapie wäre dann möglich gewesen.
Das Oberlandesgericht (OLG) Oldenburg hatte zuvor dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 130.000 Euro zugesprochen und die Klinik für Folgeschäden haftbar gemacht. Denn den Eltern sei die Kontrolluntersuchung erst drei Monate später nahegelegt worden. Damit liege ein Fehler der „therapeutischen Aufklärung“ vor, so dass es zu einer Beweislastumkehr komme.
Der BGH urteilte, dass eine fehlerhafte Information, etwa über die Dringlichkeit einer Behandlung, noch nicht zu einer Beweislastumkehr führe. Dabei sei ein Fehler der therapeutischen Information dadurch gekennzeichnet, dass Schutz- und Warnhinweise unterblieben, so dass der Patient nicht am Erfolg der medizinischen Heilbehandlung mitwirken kann. Unterlasse der Arzt es jedoch, „einen medizinisch gebotenen Befund rechtzeitig zu erheben oder zu sichern“, liege die Vorwerfbarkeit nicht in der unterlassenen therapeutischen Information, sondern „in der unterbliebenen Befunderhebung“.
Hier habe die Klinik die medizinisch gebotene augenärztliche Abschlussuntersuchung pflichtwidrig unterlassen, so dass laut dem BGH eine Beweislastumkehr begründet sei. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen hätten die Ärzte spätestens zum errechneten Geburtstermin die Netzhaut bei dem frühgeborenen Kläger erneut kontrollieren müssen.
Der Arzt müsse auf eine rasche diagnostische Abklärung und Therapie hinwirken, um vermeidbare Schädigungen des Patienten auszuschließen. Dies gelte auch nach der stationären Entlassung, wenn der Patient eine ambulante Anschlussbehandlung benötigt. Das OLG müsse nun der Klinik noch einmal Gelegenheit geben, sich zu dem Befunderhebungsfehler zu äußern.
In solch einem Fall greift der Grundsatz der Beweislastumkehr zugunsten des Patienten. Am 28. August 2018 urteilte der BGH, dass bei konkreten Hinweisen einer drohenden Problemgeburt Schwangere über einen Kaiserschnitt als Behandlungsalternative frühzeitig aufgeklärt werden müssen. Erfolgt die Aufklärung erst, wenn nur noch ein „eiliger Kaiserschnitt“ infrage kommt, stellt dies grundsätzlich einen Behandlungsfehler dar, für den Ärzte und Klinik haften können, so der BGH.
Das OLG Hamm urteilte dagegen am 2. Februar 2018, dass selbst bei einem groben Behandlungsfehler Patienten keine Beweislastumkehr einfordern können, wenn sie ärztlichen Rat missachtet haben. Im Streitfall wurde ein Patient wegen des Verdachts auf eine Herzerkrankung an einem Wochenende eingeliefert. Das Krankenhaus unterließ eine erforderliche Untersuchung. Als der Mann gegen den ärztlichen Rat die Klinik verließ, starb er an einem Herzinfarkt. Wegen der Missachtung des ärztlichen Rats könne sich die klagende Witwe aber nicht auf die bei Behandlungsfehlern übliche Beweislastumkehr berufen, stellte das OLG fest.
Bundesgerichtshof zum aktuellen Fall: Az.: VI ZR 108/23
Bundesgerichtshof zu Aufklärungsfehlern: Az.: VI ZR 509/17
Oberlandesgericht Hamm: Az.: 26 U 72/17