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Sport: Wenn Bewegung zur Sucht wird




Ein Jugendlicher trainiert in einem Fitnessstudio.
epd-bild/Stefan Arend
Sport ist gesund. Doch wenn Bewegung zum Zwang wird, kann sie oft den ganzen Alltag kontrollieren. Eine Betroffene berichtet, wie ihr Sportzwang sie schließlich berufsunfähig gemacht hat.

Prien am Chiemsee, Halle-Wittenberg (epd). Sechs Stunden Bewegung am Tag. Sport bestimmt seit vielen Jahren den Alltag von Nina Bäuerlein (Name geändert). Die 39-Jährige leidet an einem Bewegungsdrang. „Es ist wie eine Stimme im Kopf, die einen immer weiter antreibt“, sagt die Betriebswirtin, die aus beruflichen Gründen ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte.

Von Spazieren über Joggen, Fahrradfahren und Schwimmen - Bäuerlein nutzt Sport, um negativen Gedanken aus dem Weg zu gehen. „Ich verwende Bewegung als Art Ablenkung und Zeitvertreib“, sagt sie. Doch ihr Verhalten wurde immer zwanghafter, nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Sie bewegte sich bis zu sechs Stunden am Tag, konnte ihren Beruf nicht mehr ausüben, Sport bestimmte ihren Alltag. Begonnen habe ihr Zwang im Jahr 2017. „Auslöser war mein unerfüllter Kinderwunsch“, sagt sie. „Ich hatte damals mehrere künstliche Befruchtungen machen lassen, die leider alle nicht erfolgreich waren.“

„Von einer Sucht in die nächste geschlittert“

Hilfe fand Bäuerlein in der Schön Klinik Roseneck im bayerischen Prien am Chiemsee. Hier verbringt sie derzeit einen vierwöchigen stationären Aufenthalt. Das Programm rund um Einzel- und Gruppentherapien soll ihr helfen, ihre Sportsucht in den Griff zu bekommen.

Der Sportzwang ist eine Folge ihrer Magersucht. Seit ihrem 17. Lebensjahr leidet die 39-Jährige an Anorexie. Auch wegen ihrer Essstörung war sie bereits in stationärer Behandlung gewesen. Dort begann ihr Bewegungsdrang. „Ich bin damals von einer Sucht in die nächste geschlittert“, erinnert sie sich.

Für den Arzt Oliver Stoll ist das ein bekanntes Muster. „Wir kennen zwei Formen der Sportsucht, die primäre und die sekundäre. Letztere kommt deutlich häufiger vor. Etwa 25 Prozent der Essgestörten entwickeln auch eine Sportsucht“, erklärte der Professor für Sportpsychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Stoll, der seit Jahren zum Thema Sportsucht und Sportzwang forscht, sagt: „Betroffene versuchen neben der Kalorienrestriktion auch durch exzessives Sporttreiben abzunehmen. Hierbei spricht man dann von einer sekundären Sportsucht, da die Essstörung zuerst da war.“ Die primäre Sportsucht sei relativ selten.

Zwanghaftes Verhalten

Einen Sportzwang von einem gesunden Verhältnis zu Sport zu unterscheiden, sei schwierig. „Die Trennlinie kann verschwimmen. Wir unterscheiden generell zwischen einer Sportbindung und einer Sportsucht. Von einer Sportbindung spricht man, wenn Menschen sehr gerne und intensiv Sport machen, sich beispielsweise auf einen Ironman oder einen Marathon vorbereiten und dafür sehr viel trainieren oder den Sport sogar beruflich ausüben. Obwohl in diesem Fall sehr viel Sport getrieben wird, ist man deswegen aber noch nicht süchtig“, erklärt Stoll.

Bei einer Sportsucht hingegen weisen Betroffene ein zwanghaftes Verhalten auf. „Es muss Sport gemacht werden, selbst bei Erschöpfung oder Erkrankung. Die Gedanken kreisen den ganzen Tag nur noch um dieses Thema.“

Bei Bäuerlein sei der Bewegungsdrang besonders schlimm nach den Mahlzeiten. „Da ist dann immer der Gedanke: Ich muss das Essen jetzt wieder abtrainieren“, sagt sie. In den letzten Jahren konnte sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht arbeiten. Aktuell arbeitet sie zwei Stunden am Tag.

Ehrgeizig und perfektionistisch

Sport nahm bereits in Bäuerleins Kindheit eine zentrale Rolle ein. „Ich mache Sport, seit ich drei Jahre alt bin. Von Radfahren über Ballett bis hin zu Reiten, Tennis spielen und Turnen.“ Auch sei Leistung, besonders berufliche, in ihrer Familie stets ein großes Thema gewesen. Doch auch sie selbst habe sich häufig Druck gemacht. „Ich bin sehr ehrgeizig und perfektionistisch.“

Dass Perfektionismus ein häufiger Auslöser eines Sportzwangs ist, kann Stoll bestätigen. Die Auslöser einer Sportsucht seien jedoch vielfältig. „Wir gehen davon aus, dass es eine genetische Disposition gibt. Aber auch bestimmte einschneidende, kritische Lebensereignisse wie Mobbing, Kündigung, Trennung oder der Verlust eines geliebten Menschen können Auslöser einer Sportsucht sein“, erklärt der Psychologe.

Für die Zeit nach ihrem Aufenthalt in der Klinik habe Bäuerlein bereits Pläne. „Ich hoffe, dass ich zukünftig meinen Bewegungszwang in den Griff bekomme. Ich möchte mir einen Hund holen und einen Job suchen“, sagt sie. Auch über einen Aufenthalt in einer Tagesklinik denke sie nach.

Stefanie Unbehauen


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