Pforzheim, Nürnberg (epd). Fünf Jahre lang hat Alkohol den Alltag von Iris Müller (Name geändert) bestimmt. „Der Übergang war fließend“, sagt die heute 50-Jährige. Einen bestimmten Auslöser gab es nicht. „Mit Mitte 20 haben sich bei mir viele Charaktereigenschaften verfestigt, die mir das Leben schwer gemacht haben: der Anspruch, immer anderen helfen zu wollen, mich für alles verantwortlich zu fühlen, zunehmende Anstrengung im Beruf“, erzählt Iris Müller.
Ihr ausgeprägtes Leistungsdenken habe sie erschöpft. „Alkohol war für mich ein Mittel, um Stress zu bewältigen“, erinnert sich die Mediengestalterin. „Ich habe Alkohol als eine Art Filter benutzt zwischen mir und der Welt. Mit diesem Schleier war alles etwas leichter zu ertragen.“
Auf Partys und gesellschaftlichen Anlässen habe sie sich stets unauffällig verhalten. Problematisch wurde es erst, als sie immer häufiger allein trank. „Der wahre Alkoholmissbrauch fand hinter verschlossenen Türen statt“, erinnert sich die gebürtige Pforzheimerin.
Müller kommt aus einer Familie, die mit Suchterkrankungen zu kämpfen hatte. Ihr Vater war ebenfalls alkoholkrank. „Ich habe bei meinem Vater gesehen, welche Auswirkungen Alkoholmissbrauch hat, dennoch bin ich den gleichen Weg gegangen.“
Alkohol gehört neben Nikotin zu den häufigsten Suchtmitteln in Deutschland. Bei etwa neun Millionen Deutschen liegt ein problematischer Alkoholkonsum vor, 1,6 Millionen Erwachsene gelten als alkoholabhängig. Das geht aus Zahlen des jüngsten Drogen- und Suchtberichts der Bundesregierung hervor.
Peter Heepe, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg, ist oberärztlicher Leiter des Qualifizierten Alkoholentzugs am Krankenhaus Altdorf. Er betont, dass die Unterscheidung eines unbedenklichen Alkoholkonsums von einem problematischen nicht immer einfach sei. „Grundsätzlich ist Vorsicht geboten, wenn der Konsum nicht mehr ausschließlich dem Genuss dient, sondern eine andere Funktion übernimmt“, sagt Heepe. Das könne sein, nach einem anstrengenden Tag abzuschalten oder nicht mehr über Probleme nachdenken zu müssen.
Als Warnsignale gelten Rückmeldungen von Angehörigen, eine verminderte berufliche Leistungsfähigkeit oder Änderungen von Lebensgewohnheiten wie das Vernachlässigen von Hobbys sowie ein sozialer Rückzug. Alkoholsucht werde häufig gar nicht als Krankheit wahrgenommen, sondern mit negativen persönlichen Eigenschaften wie Willensschwäche oder Haltlosigkeit belegt, sagt Heepe.
Auf die Trinkmenge bezogen gehen Experten von einem riskanten Alkoholkonsum aus, wenn Männer regelmäßig mehr als 24 Gramm Alkohol täglich konsumieren. Bei Frauen ist es die Hälfte. „Bei einem Konsum dieser Größenordnung ist langfristig von einem deutlich erhöhten Risiko für gesundheitliche Folgeschäden auszugehen“, warnt Heepe. Ein halber Liter Bier oder ein kleines Glas Wein haben etwa 20 Gramm Alkohol.
Gesundheitlich besonders gefährdet seien Menschen, bei denen die Alkoholkrankheit über viele Jahre sozial unauffällig verlaufe. „Grundsätzlich ist die Prognose umso günstiger, je früher therapeutische Hilfe in Anspruch genommen wird“, betont Heepe.
Iris Müller hat jahrelang versucht, ihre Sucht zu verbergen und in ihrem Beruf weiterhin Leistung zu bringen. Dennoch wurden Bekannte skeptisch. „In meiner schlimmsten Zeit hat mich eine gute Freundin schließlich darauf angesprochen. Ich war erleichtert.“
Im Alter von 30 Jahren, nach mehreren gescheiterten Versuchen, die Sucht selbst in den Griff zu bekommen, besuchte sie ein Treffen der Anonymen Alkoholiker (AA). „Es hat gutgetan, Menschen kennenzulernen, die diesen Teufelskreis durchbrochen haben. Das hat mir Mut gemacht“, sagt Müller, die nun schon seit 20 Jahren alkoholabstinent lebt.
Dennoch besucht sie auch heute noch wöchentlich die Treffen der AAs in Pforzheim, engagiert sich selbst. „Das tut meiner seelischen Gesundheit gut und hat viel mehr Bedeutung, als einfach nur nicht mehr zu trinken.“