sozial-Branche

Sozialgeschichte

Paul Stäbler - Pionier der Diakonie




Paul und Martha Stäbler
epd-bild/BruderhausDiakonie
Er kümmerte sich um Menschen, um die sich niemand kümmern wollte: Paul Stäbler gründete vor über 70 Jahren das "Haus am Berg" bei Reutlingen. Als Pionier in der Diakonie ging er dabei neue Wege. Doch es gab auch Ärger mit dem Staatsanwalt.

Bad Urach, Reutlingen (epd). Viele tausend Menschen haben in Einrichtungen von „Haus am Berg“ vorübergehend eine Heimat gefunden: Flüchtlinge, Jugendliche, psychisch Kranke. Das vor über 70 Jahren in Bad Urach bei Reutlingen gegründete diakonische Werk zählte zu den innovativsten in Württemberg. Die Diakoniewissenschaftlerin Teresa Kaya hat über die Geschichte von „Haus am Berg“ ein Buch geschrieben.

Ein Heim für junge Menschen

Zwei einschneidende Erlebnisse ließen den 1896 in Stuttgart-Birkach geborenen Bauernsohn Paul Stäbler zu einem Pionier der Diakonie werden: Bei einer Evangelisation 1912 traf er eine Entscheidung, den christlichen Glauben mit Leidenschaft leben zu wollen. Im Ersten Weltkrieg, in dem er als Soldat unter anderem an der Front in Verdun diente, betete er zu Gott: „Wenn ich gesund aus dem schrecklichen Krieg zurückkomme, dann will ich mein Leben dir ganz zur Verfügung stellen.“

Dazu bekam Stäbler reichlich Gelegenheit. Zuerst arbeitete er rund 30 Jahre lang für die Gustav-Werner-Stiftung in Reutlingen, wo er schließlich den Vorstandsposten übernahm. Allerdings wurden 1949 Zweifel an seinem Umgang mit Geld geäußert, weshalb man ihn auf das Stellvertreteramt des Vorstandschefs zurückstufte. Drei Jahre später gründete Stäbler „Haus am Berg“, um jungen Menschen ein Heim bieten zu können.

Schon diese Gründung war innovativ, weil sie die Form einer gemeinnützigen GmbH wählte. Während bis dahin soziale Werke andere Konstrukte, etwa ein Stiftungsmodell, bevorzugten, machten die Kapitalgeber - christliche Unternehmer und Freunde - klar, dass die soziale Arbeit auch wirtschaftlich auf soliden Füßen stehen muss. Der Name „Haus am Berg“ stammte von der ursprünglichen Idee, ein ausrangiertes Hotel in Urach zu kaufen und in ein Heim zu verwandeln. Der Kauf scheiterte, der Name blieb; ein anderes Gebäude am Ufer der Erms diente schließlich als erste Einrichtung des neuen Werks.

Rasantes Wachstum

Die Arbeit wuchs rapide. Stellte das „Haus am Berg“ im ersten Jahr 80 Plätze für Alten- und Jugendhilfe zur Verfügung, so waren es zehn Jahre später schon 550. Hinzugekommen waren mehrere Standorte, darunter in Stuttgart zwei Häuser für geistig behinderte Jungen und auszubildende Mädchen. Nach 30 Jahren waren es knapp 900 Plätze an verschiedenen Orten in Württemberg und Baden.

Das Ehepaar Stäbler hatte eine Mission. Neben der Hilfe zum Leben wollten Paul und Martha Stäbler immer auch Hilfe zum christlichen Glauben geben. Andachten, Gebete und Bibelstunden waren selbstverständlicher Bestandteil der diakonischen Arbeit. Die Pädagogik - auch die christliche - gestaltete sich in der damaligen Gesellschaft rauer als heute. Körperliche Züchtigung gehörte noch dazu.

Das strenge Regiment führte bereits 1968 zu Beschwerden bei der Uracher Stadtverwaltung - denn wer sich dem Kirchgang oder der Bibelstunde verweigerte, musste Ausgangs- und Taschengeldsperren hinnehmen. Sogar die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein. Im Ergebnis kam es zur Empfehlung, dass „Haus am Berg“ keine Problemjugendlichen mehr aufnehmen und sich um pädagogisch ausgebildetes Personal kümmern solle.

„Ikarus vom Lautertal“

Andererseits setzte der Staat voll auf den diakonischen Einsatz des Werks. Im 20 Kilometer von Urach entfernten Buttenhausen etwa - dem Geburtsort des Zentrum-Politikers Matthias Erzberger (1875-1921) - entstand ein Heim für Menschen, die niemand haben wollte und von denen viele aus einer geschlossenen Abteilung der Psychiatrie kamen. Der berühmteste Heimbewohner wurde Gustav Mesmer, der sich mit seinen außergewöhnlichen „Flugfahrrad“-Konstruktionen den Spitznamen „Ikarus vom Lautertal“ erwarb und dessen Kreationen bei der Weltausstellung 1992 in Sevilla präsentiert wurden.

Trotz des starken Wachstums blieb die Leitung zunächst ausschließlich in Familienhand. Paul Stäbler übergab den Stab an seinen Sohn Werner, andere Familienmitglieder hatten weitere Führungspositionen inne. 2004 entschied man sich dann aber, mit der BruderhausDiakonie zusammenzugehen. Martin Beck, einer der Motoren der Fusion, schreibt im Vorwort zum Buch: „Nach fast zwanzig Jahren sind die Teile der einzelnen Organisationen so zusammengewachsen, dass kaum noch jemand die alten Grenzlinien erkennt, und das ist gut so.“

Marcus Mockler