Berlin (epd). Caritas-Direktorin Ulrike Kostka sagte im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd), nötig sei auch ein spezielles Konzept im Umgang Menschen, die zugleich drogenabhängig und wohnungslos sind. Die Fragen stellte Bettina Gabbe.
epd sozial: In den Notübernachtungen der Berliner Kältehilfe waren in den vergangenen Wochen regelmäßig fast alle Plätze belegt. Was bedeutet das für die dortige Arbeit?
Ulrike Kostka: Gerade in diesem Winter sind wir an der obersten Grenze mit der Auslastung der Kältehilfe. Das zeigt, es besteht ein hoher Bedarf. Die Kältehilfe versucht immer wieder, mit dem Senat zusammen und weiteren Akteuren zusammen, weitere Unterkünfte zu öffnen.
epd: Wie viele Obdachlose gibt es in Berlin?
Kostka: Wir wissen, dass wir ungefähr 40.000 Wohnungslose haben, darunter Menschen, die in Gemeinschafts- und Notunterkünften untergebracht sind. Mehrere Tausend sind wohnungslos auf der Straße, mit steigender Tendenz.
epd: Was ist nötig, um die Kältehilfe auf eine stabile Grundlage zu stellen?
Kostka: Die Kältehilfe ist ein stabiles System, aber es gibt immer wieder auch Herausforderungen. Immer wieder gehen Immobilien verloren. Es ist sehr schwierig, neue Immobilien zu finden. Die Stadtmission musste jetzt eine 24/7-Unterkunft schließen und hat zunächst keine neue gefunden. Das andere ist, Fachkräfte zu finden, weil ein System mit kurzen Verträgen mit einer Laufzeit von ein paar Monaten auf Dauer nur schwer funktioniert. Zu den Faktoren, die Kältehilfe erschweren, gehören auch steigende Kosten. Wir brauchen darüber hinaus mehr ganzjährige Unterkünfte, denn die große Not beginnt oft nach dem Ende der Kältehilfe. Deswegen sind ganzjährige Unterkünfte und natürlich Wohnungen, die man Menschen vermitteln kann, ganz entscheidend. Und wir brauchen mehr Orte, an denen sich die Menschen am Tag aufwärmen und aufhalten können. Bei den meisten Einrichtungen der Kältehilfe müssen sie morgens wieder raus. Dieser Bedarf, der Tag, ist oft das große Problem.
epd: Warum müssen die Menschen die Unterkünfte am Tag verlassen?
Kostka: Weil die Einrichtungen gereinigt werden müssen. Aber auch, weil das Angebot so ausgelegt ist, was die Personalkapazitäten angeht. Es sind reine Notunterkünfte. Wenn man sie 24 Stunden offen halten wollte, wäre das wesentlich teuer. Davon gibt es nicht so viele Orte. Bundesweite Studien zeigen, dass die Menschen gerade am Tag zu wenig Orte haben, wo sie sich ausruhen und einfach aufhalten können. Die Zahl der Betroffenen nimmt zu, aber auch die Zahl der Menschen, die eine starke Suchtmittelabhängigkeit haben. Süchtige Menschen in der Kältehilfe stellen eine Herausforderung dar, deswegen braucht es da spezialisierte Einrichtungen.
epd: Warum werden in kalten Nächten nicht einzelne U-Bahnhöfe für Obdachlose offen gehalten?
Kostka: U-Bahnhöfe sind sehr gefährliche Orte für den Aufenthalt. Das ist wirklich nur eine Not-Option. Es bestehen dort große Gefahren, sei es Gewalt, sei es, dass die Menschen irgendwie auf die Gleise kommen. Deswegen ist das keine Option. Das sollte vermieden werden.
epd: Warum sind Angebote in Außenbezirken keine Lösung?
Kostka: Die Erfahrung zeigt, dass diese Einrichtungen wenig genutzt werden, weil die Menschen sich mehr in den Innenbezirken aufhalten. Die Innenbezirke sind ihr Lebensraum. Sie haben dort sozusagen ihre Wohnung, sie sind wohnungslos, aber sie leben dort ihr Leben, weil sie dort die meiste Unterstützung finden, Flaschen sammeln, betteln oder Zeitungen verkaufen können. Das würde in den Außenbezirken nicht gut funktionieren.
epd: Wo sehen Sie den größten Bedarf bei Angeboten für Obdachlose nicht nur im Winter?
Kostka: Der größte Bedarf besteht an Wohnungen, ganzjährigen Unterkünften und Tagesaufenthalten. Das andere, was uns Gedanken macht, ist die medizinische Versorgung. Wir machen uns große Sorgen um unsere Krankenwohnung. Das ist eine Krankenstation für 20 obdachlose Menschen, die sehr zentral und extrem wichtig ist, damit sich Menschen erholen können. Das sind Menschen mit schweren Erkrankungen, teilweise sterben dort auch Menschen. Da ist eine große finanzielle Lücke von über 350.000 Euro im Jahr. Diese Krankenwohnung muss für Berlin gesichert werden.
epd: Was sind Ihre Forderungen an den Senat?
Kostka: Wir fordern vom Senat eine langfristige finanzielle Sicherung der Krankenwohnung und die Schließung der finanziellen Lücke der Krankenwohnung. Darüber hinaus fehlen 120.000 Euro für die Caritas-Ambulanz. Wir brauchen mehr Tagesaufenthalte beziehungsweise Einrichtungen, wo die Menschen 24 Stunden bleiben können. Und es braucht eine Strategie im Umgang mit Menschen, die wohnungslos sind und suchtmittelabhängig. Da braucht es dringend eine Strategie, weil das extrem zunimmt.
epd: Welchen Stellenwert haben Weihnachtsaktionen wie die von Frank Zander für Obdachlose?
Kostka: Sie haben eine extrem hohe Bedeutung für die Menschen, die dort hingehen können und sich das ganze Jahr darauf freuen. Das ist für sie ein Ort der Wertschätzung, der Zuwendung. Das ist wirklich ein Highlight des ganzen Jahres. Sie werden dabei in den Mittelpunkt der Gesellschaft gestellt. Das ist sehr wichtig. Durch diese Aktionen wird das Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit in den Mittelpunkt gestellt, vor allem die Menschen, die wohnungslos sind, und diejenigen, die sich beruflich und ehrenamtlich für sie engagieren.
epd: Was sind aus Ihrer Sicht die dringendsten Maßnahmen gegen Wohnungslosigkeit?
Kostka: Das Wichtigste ist, dass man das Räumen von Wohnungen verhindert, weil dabei die Wohnung für den Menschen, aber auch für den Mietmarkt verloren geht, denn meistens wird sie teurer vermietet. Und natürlich der Bau von Wohnungen, aber auch der Zugang dazu für Wohnungslose, die sich häufig ganz hinten anstellen. Was wir dringend brauchen, sind Wohnkonzepte, für Menschen, die wohnungslos waren und pflegebedürftig oder chronisch erkrankt sind. Da erleben wir eine große Verelendung auf der Straße. Diese Menschen müssen dringend in Wohngemeinschaften oder Wohnmöglichkeiten bis hin zu Pflegeeinrichtungen kommen. Es kann nicht sein, dass Menschen auf der Straße mit Wunden leben und letztendlich auch teilweise sterben. Deswegen ist die Krankenwohnung so wichtig, weil sie ein erster Schritt ist, medizinische und pflegerische Behandlung zu bekommen. 50 Prozent der Menschen werden von dort weiter vermittelt in Wohnungen oder Einrichtungen.
epd: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Sondervermögen und multiple Krisen führen zu einer angespannten Haushaltslage. Wird vor diesem Hintergrund genug für die Bekämpfung von Obdachlosigkeit in Berlin und auf Bundesebene getan?
Kostka: Der soziale Wohnungsbau ist zu sehr zurückgegangen. Es muss alles dafür getan werden, ihn zu fördern. Es besteht ein großes Risiko durch diese finanziellen Lücken, aber auch in den Landes- und Kommunalhaushalten, dass der soziale Wohnungsbau weiter eingeschränkt wird. Zum anderen darf man bei Maßnahmen gegen Obdach- und Wohnungslosigkeit nicht kürzen, weil es Menschenleben gefährdet. Und wenn immer mehr Menschen auf der Straße leben, führt es zu hohen Belastungen für die Betroffenen, aber auch für die Umgebung. Dementsprechend sind Investitionen in Wohnungslosenhilfe und vor allem auch Vermittlung von Wohnungen, die Bekämpfung der Ursachen viel kostengünstiger, als wenn Menschen immer mehr ihre Wohnungen verlieren. Für Prävention gegen Wohnungslosigkeit ist es wichtig, dass in diesen Bereich investiert wird.