sozial-Recht

Landessozialgericht

Grad der Behinderung von 100 macht nicht zwingend hilflos




Pflegerin mit einer Heimbewohnerin im Rollstuhl
epd-bild/Tim Wegner
Pflegebedürftige Menschen mit einem Pflegegrad 3 und einem Grad der Behinderung von 100 müssen nicht als "hilflos" und "außergewöhnlich gehbehindert" gelten. Dies hat das Landessozialgericht Stuttgart in einem Urteil klargestellt.

Stuttgart (epd). Pflegebedürftige Menschen gelten allein wegen eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 nicht als „hilflos“ oder „außergewöhnlich gehbehindert“. Ein Anspruch auf das Merkzeichen „H“ (hilflos) besteht in der Regel erst dann, wenn der behinderte Mensch täglich mindestens zwei Stunden lang einen „erheblichen Hilfebedarf“ in mindestens drei Bereichen benötigt, die für die Sicherung seiner persönlichen Existenz erforderlich sind, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in einem am 14. Oktober veröffentlichten Urteil. Für die Zuteilung des Merkzeichens „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) müsse die Gehbeeinträchtigung einem GdB von mindestens 80 entsprechen, erklärten die Stuttgarter Richter.

100 Meter gehen ohne fremde Hilfe

Damit scheiterte die Klage einer schwerbehinderten Rentnerin. Wegen zahlreicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen wurde ihr zuletzt ein GdB von 100 zuerkannt. Vom zuständigen Regierungspräsidium beantragte sie die Zuteilung der Merkzeichen „aG“ und „H“. Ihr wurde ein Pflegegrad von 3 und damit eine schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit bescheinigt.

Sie habe eine Kniegelenkprothese und ein Wirbelsäulenleiden, sodass Gangunsicherheiten bestünden. Mit ihrem Rollator könne sie sich seit der letzten Rehabilitation nur rund 100 Meter ohne fremde Hilfe fortbewegen. Auch zum Aufstehen aus dem Bett benötige sie fremde Hilfe. Sie sei zudem inkontinent. Der Toilettengang sei ohne fremde Hilfe nicht mehr möglich.

Das Regierungspräsidium wies den Antrag auf Zuteilung der Merkzeichen „aG“ und „H“ ab. Die Klägerin sei nicht „hilflos“. Das Merkzeichen „H“ könne ohne nähere Prüfung etwa bei Blindheit oder einer Querschnittslähmung erteilt werden. Auch bei einem Pflegegrad von 4 oder 5 könne dieses erteilt werden.

Diese Voraussetzungen lägen bei der Rentnerin aber nicht vor. So sei die Klägerin bei der Körperpflege noch überwiegend selbstständig. Nur bei manchen Verrichtungen im Alltag sei mehrmals täglich eine gezielte Hilfestellung notwendig, die ihr ein Pflegedienst und ihr Ehemann biete.

Zwei Stunden täglich auf andere angewiesen

Ein Anspruch auf das Merkzeichen „aG“ bestehe ebenfalls nicht. Erforderlich hierfür sei, dass die Betroffene allein wegen ihrer Gehbehinderung einen GdB von wenigstens 80 habe. Hier liege zwar ein Gesamt-GdB von 100 vor. Die darin enthaltene mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung sei jedoch weniger als 80. Eine erhebliche Gehbeeinträchtigung bestehe damit nicht.

Sowohl das Sozialgericht Reutlingen als nun auch das LSG wiesen die Klage auf Erteilung der Merkzeichen „aG“ und „H“ ab. Für das Merkzeichen „aG“, das etwa das Parken auf Behindertenparkplätzen erlaubt, brauche es eine „erhebliche“ Gehbehinderung. Die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung müssen mindestens einem GdB von 80 entsprechen. Dies sei etwa bei Rollstuhlfahrern oder Menschen mit schwersten Einschränkungen der Herzleistungsfähigkeit oder schwersten Gefäßerkrankungen der Fall.

Die Klägerin sei zwar in ihrer Mobilität eingeschränkt. Ihre Gehbeeinträchtigung entspreche aber nicht einem GdB von mindestens 80. Nach dem Entlassungsbericht über eine erfolgte geriatrische stationäre Behandlung könne die Klägerin im Freien mit dem Rollator mehr als 100 Meter gehen. Auch das Steigen von 20 Treppenstufen sei möglich. Das Gehvermögen sei damit nicht „schwerst eingeschränkt“.

Auch auf das Merkzeichen „H“ bestehe kein Anspruch. Dass die Klägerin pflegebedürftig ist und einen Pflegegrad 3 hat, begründe allein nicht die Zuteilung des Merkzeichens „H“. „Hilflos“ sei vielmehr eine Person, „wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe bedarf“. Zu den berücksichtigenden Verrichtungen gehöre der Bereich der Körperpflege, Ernährung und Mobilität, aber auch Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistigen Anregung und Kommunikation. Die hauswirtschaftliche Versorgung gehöre aber nicht dazu.

Hilflos seien danach jene Menschen, wenn sie mindestens zwei Stunden täglich in erheblichem Umfang Hilfe bei wenigstens drei regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den genannten Bereichen benötigen. Die Klägerin benötige zwar Hilfe bei der Körperpflege wie dem Duschen und Baden. Auch sei sie in ihrer Mobilität eingeschränkt. Allerdings erfolge die Nahrungsaufnahme weitgehend selbstständig. Sie könne ihren Tagesablauf selbstständig gestalten und ihrem Hobby, dem Lesen, nachgehen. „Hilflos“ sei dies nicht.

Az.: L 6 SB 1577/23

Frank Leth