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Inklusion

Singen gegen das Vergessen: Großer Andrang bei Demenzchören




Frauen des inklusiven Chors "Vergissmeinnicht"
epd-bild/Evelyn Sander
Musizieren tut Demenzkranken gut. Wie viel Spaß es macht, zeigen die inklusiven Chöre "Vergissmeinnicht" in Hamburg. Aktuell ist die Nachfrage noch größer als vor der Corona-Pause.

Hamburg (epd). Es beginnt mit Schulterkreisen und Gähnen, mit „Ssst“, „Ruiuiui“ und „Dododo“: Jede Probestunde des inklusiven Chors „Vergissmeinnicht“ in Hamburg-Wandsbek startet mit Lockerungsübungen. „Bewegung gehört dazu“, sagt Chorleiterin Monika Röttger. Sie setzt sich ans Klavier und gibt erste Töne vor. Waren vor einem halben Jahr 18 ältere Männer und Frauen da, kommen aktuell 30.

„Die Nachfrage nach unseren Chören hat sich seit diesem Frühjahr fast verdoppelt“, freut sich Anna Hassel von der Alzheimer Gesellschaft Hamburg, die das Projekt „Vergissmeinnicht“-Chöre leitet. Neben Wandsbek und Altona wurde im August ein neuer, inklusiver Chor in Volksdorf gegründet. Es sollen noch mehr werden, damit der Weg für die Sängerinnen und Sänger zu den Chorproben möglichst kurz ist. „Wenn Menschen mit Demenz beim Singen gemeinsam aktiv sind, stärkt das ihr Selbstwertgefühl und ist einfach Lebensfreude pur“, sagt Hassel. Etwa ein Drittel der Teilnehmenden der „Vergissmeinnicht“-Chöre ist von Demenz betroffen, andere sind Angehörige oder Menschen, die einfach Lust auf Singen haben.

Humor, Geduld und Spontaneität

Männer und Frauen tuscheln, knuffen sich in die Seite und lachen. Manche stehen, andere sitzen. Strenge Vorschriften gibt es nicht. Nur eines ist der Stimmtherapeutin wichtig: „Das gemeinsame Singen soll glücklich machen“, sagt Chorleiterin Röttger. Perfektion, darauf kommt es der 61-jährigen Chorleiterin nicht an. „Auch Schema-F funktioniert bei diesem Chor nicht, wir orientieren uns immer an den Schwächsten in der Gruppe“, sagt sie. Was es benötige, seien Humor, Geduld und Spontaneität.

Manchmal werden Teilnehmende unruhig, tanzen, haben Lachanfälle oder kommen zum Klavier und wollen die Notenblätter sortieren. „Da muss ich einfach gut improvisieren können“, sagt Röttger und schmunzelt. Auf dem Programm stehen aktuell Lieder wie „Hejo, spann den Wagen an“ oder „Der Herbst ist da“, die viele Sängerinnen und Sänger von früher kennen. Seit zehn Jahren leitet sie diesen besonderen Chor, inzwischen rückt das Thema Musik für Demenzerkrankte immer mehr in den Fokus.

Im vergangenen Jahr gründete der Deutsche Musikrat die Bundesinitiative „Musik und Demenz“, um entsprechende Angebote flächendeckend voranzubringen. Auch das Bundesseniorenministerium und der Bundesmusikverband Chor & Orchester (BMCO) wollen das Angebot für Betroffene stärken und gründeten Anfang März das Förderprojekt „Länger fit durch Musik“.

Der Bedarf ist groß. Laut dem zuständigen Bundesministerium waren 2022 mehr als 1,8 Millionen Deutsche von Demenz betroffen, laut Schätzungen wird sich die Zahl bis zum Jahr 2050 auf rund 2,6 Millionen erhöhen. „Musiktherapie ist vor allem da hilfreich, wo Worte und Gespräche nicht mehr möglich sind“, sagt Lutz Neugebauer, Leiter der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft.

Aktives Gedächtnistraining

Forschungen belegten, dass Musik auch bei unruhigem oder ängstlichem Verhalten helfe. Und wenn Demenzerkrankte neue Lieder lernten, sei das „aktives Gedächtnistraining“, betont Chor-Projektleiterin Hassel, die auch Expertin für Kulturarbeit mit Älteren ist. Das Training könne die Demenzerkrankung zwar nicht aufhalten, aber ihren Verlauf verlangsamen, sagt die 40-Jährige. Der Chor sei viel mehr als nur Musik: Hier hätten sich neue Freundschaften gefunden, pflegende Angehörige tauschten sich aus, stützten einander, gemeinsam habe man Spaß.

„Ich möchte, dass unsere Sängerinnen und Sänger gesehen werden und den Applaus genießen können“, sagt Hassel. Ein Highlight war im Juli der Auftritt bei „Die Elbphilharmonie singt“. „Vergissmeinnicht“ war einer von 20 teilnehmenden Laienchören aus Norddeutschland. Auch der Weihnachtsauftritt mit dem NDR-Vokalensemble sie in diesem Jahr wieder geplant.

Der Chor- und Orchesterverband BMCO sieht Musik als „Königsweg“ zu Menschen mit Demenz. Sie baue „Klangbrücken“ zu Erinnerungen, Angehörigen und Betreuerinnen und Betreuern.

Wie sich das anfühlt, erlebt Tanja Döhring mit ihrem Vater Kurt Mletschkowsky, der in einer Demenz-Wohngemeinschaft lebt. Seit Jahren singen die beiden gemeinsam im „Vergissmeinnicht“-Chor. „Es tut ihm richtig gut und er hat nette, neue Menschen kennengelernt“, erzählt Döhring und legt ihre Hand auf den Arm ihres Vaters. Früher habe er oft unter der Dusche gesungen. Richtige Gespräche könne sie mit ihrem Vater nicht mehr führen, aber beim Chor spiele das auch keine Rolle: „Mein Vater strahlt richtig, wenn er singt.“ Und sogar neue Melodien kann er sich merken.

Evelyn Sander