sozial-Politik

Bildung

Interview

Ministerin: Inklusion bleibt ein riesiges Thema




Julia Willie Hamburg
epd-bild/brauers.com
Für die niedersächsische Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) ist die schulische Inklusion in den letzten zehn Jahren gut vorangekommen. "Trotzdem gibt es immer noch Themen, die wir nicht zur vollen Zufriedenheit gelöst haben. Inklusion ist wie alle Kultusthemen riesig", sagt sie im Interview mit dem epd. Und verrät, was nun ganz oben auf ihrer Agenda steht.

Hannover (epd). Zehn Jahre nach dem Beginn der Inklusion an niedersächsischen Schulen sieht Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) einiges erreicht. Zugleich blieben noch viele Herausforderungen, damit der gemeinsame Unterricht für alle auch überall gelinge, so Ministerin Hamburg. Manche Probleme zeigten sich dabei erst nach und nach in der Praxis. Die Fragen stellten Karin Miether und Michael Grau.

epd: Frau Hamburg, wie fällt Ihre Bilanz zehn Jahre nach der Einführung der Inklusion in Niedersachsen aus?

Julia Hamburg: In den letzten zehn Jahren ist in Niedersachsen viel passiert. Sehr viele Kinder sind mittlerweile in der inklusiven Beschulung. Trotzdem gibt es auch immer noch Themen, die wir nicht zur vollen Zufriedenheit gelöst haben. Es ist ein Umbruch, der immer noch andauert. Inklusion ist wie alle Kultusthemen riesig.

epd: Was liegt denn für Sie obenauf?

Hamburg: Als erstes haben wir die Zahl der pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erhöht. Mit dem Nachtragshaushalt haben wir so für zusätzliches Personal gesorgt, auch wenn es noch nicht genug ist. Und wir werden einen Sozialindex einführen, um etwa den Einsatz von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern so zu steuern, dass sogenannte Brennpunktschulen, die mehr Bedarf haben, auch mehr Personal bekommen. Für Kinder mit Förderbedarf werden zum Teil Inklusionsassistenten gewährt. Meist individuell pro Kind. Da wollen wir gemeinsam mit den Kommunen jetzt schauen, wie man die übergreifender einbinden kann. Zum Teil gibt es da zwei bis drei in einer Klasse, während in einer anderen Klasse gerade niemand ist. Das ergibt wenig Sinn.

epd: Welche Probleme zeigen sich in der Praxis?

Hamburg: Rechtliche Regelungen mussten zum Teil angepasst werden. Um ein Beispiel zu nennen: Man konnte relativ lange den Hauptschulabschluss nur nach der neunten und nicht nach der zehnten Klasse machen. Aber Kinder mit dem Förderbedarf „Lernen“ können zum Teil erst nach der zehnten Klasse den Hauptschulabschluss erwerben. Das bedeutete, dass sie sitzenbleiben mussten, anstatt mit ihren Mitschülern in die zehnte Klasse zu gehen und dort dann den Hauptschulabschluss zu machen. Das wurde letztes Jahr erst geändert. Immer wieder tauchen solche Fälle auf, in denen die Regeln noch nicht zu der Realität an den Schulen passen.

epd: Verstehen Sie, dass sich manche Eltern gegen das bevorstehende Aus für die Förderschulen „Lernen“ wehren?

Hamburg: Wenn mir Eltern schildern, dass ihre Kinder an ihrer Schule nicht so gefördert werden, wie es wünschenswert wäre, dann nehme ich das sehr ernst. Aber, die Zahlen zeigen, dass Kinder mit dem Förderbedarf „Lernen“ in der Inklusion bessere Abschlüsse erzielen als in einer Förderschule. Sie kriegen zum Beispiel häufiger den Hauptschulabschluss.

epd: Bessere Lernerfolge haben die Kinder demnach in gemischten Gruppen mit leistungsstärkeren und leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern. Dennoch findet Inklusion vor allem an Hauptschulen statt, an denen zuletzt der Anteil der inklusiv beschulten Kinder bei knapp 24 Prozent lag, und kaum an Gymnasien mit nur 0,8 Prozent. Wie ließe sich das ändern?

Hamburg: Nach dem Schulgesetz sind alle Schulen inklusive Schulen, und trotzdem merken wir, dass bestimmte Schulen viel mehr Kinder mit Förderbedarf aufnehmen als andere. Das sind insbesondere die Haupt- und Oberschulen, aber auch die Gesamtschulen. Ich führe Gespräche mit den Gymnasien und den Verbänden darüber, was gewährleistet sein muss, damit auch sie inklusiver werden. Dann sagen mir Lehrkräfte, sie sollten zum Abitur führen und hätten einen unheimlichen Druck im System. Wie sollen wir dann Kinder davor bewahren, dass sie das Gefühl haben zu scheitern? Gymnasial-Lehrkräfte sind häufig auch mit anderen Schwerpunkten ausgebildet. Gleichzeitig gibt es Gymnasien, die bereits tolle Konzepte haben. Wir überlegen deshalb, wie die Rahmenbedingungen an den Schulen verändert werden können, um mehr Inklusion zu ermöglichen.

epd: Nun ist Inklusion ja ein Rechtsanspruch. Wird der denn in der Praxis ausreichend gewährt?

Hamburg: Das ist von Schule zu Schule völlig unterschiedlich. Ich bekomme vereinzelt auch Fälle auf den Tisch, in denen Dinge nicht so laufen, wie es eigentlich gedacht ist. Gleichzeitig gibt es viele Schulen, die zeigen, dass es geht und die das schon seit 20 Jahren machen. Dort sehen wir, dass Kinder sich extrem positiv entwickeln. Mein Anspruch muss es sein, dass auch andere Schulen einen solchen Weg nehmen. Mittlerweile haben 60.000 Lehrkräfte in Niedersachsen eine Fortbildung zur Inklusion durchlaufen. Das ist ein relativ hoher Anteil. Wir entwickeln die Fortbildungen auch immer weiter.

epd: Sie haben im Koalitionsvertrag vereinbart, den Anteil der Sonderpädagogik zu erhöhen. Wie soll das gehen?

Hamburg: Die Studienplatz-Kapazitäten wurden in den letzten Jahren schon deutlich erhöht. Wir prüfen gerade, ob es einer weiteren Erhöhung bedarf. Es gab früher mal eine Fortbildung für Lehrkräfte, um eine sonderpädagogische Zusatzqualifikation zu erwerben. Solche Fortbildungen wollen wir weiterdenken, um auch kurzfristig den Anteil zu erhöhen.

epd: Wie hoch ist das Interesse an dieser Art von Fortbildung?

Hamburg: Sie sind gefragt, weil die Lehrkräfte ja sowieso mit diesen Themen konfrontiert sind. An der Grundschule gibt es zum Beispiel eine enorme Spreizung. Die einen Kinder können noch nicht einmal die Buchstaben benennen und die anderen lesen schon ein Buch.

epd: Wie wollen Sie angesichts dieser Herausforderungen Lehrerinnen und Lehrer motivieren?

Hamburg: Wir haben den Lehrermangel ja hauptsächlich bei den Grund-, Haupt- und Realschullehrkräften, und die werden wir künftig besser bezahlen, mit A13. Das ist eine Anerkennung und zusätzliche Wertschätzung, die Menschen motivieren wird, den Beruf zu ergreifen. Wir machen zudem Image-Kampagnen. Wir werden weniger Lehrer haben, wie wir insgesamt weniger Fachkräfte haben werden, weil wir weniger Menschen haben. Deshalb organisieren wir es so, dass wir sie mit anderem Personal unterstützen und Schule neu denken können. Da gibt es dann vielleicht den IT-Administrator, der Lehrkräften bestimmte Aufgaben abnimmt.