Halle (Saale) (epd). An diesem verregneten Sommermorgen sind die meisten Kinder in der Kita „Heide-Süd“ in Halle (Saale) putzmunter. Einige toben über den Flur, der mit Spielzeug und Bobbycars gespickt ist. Andere springen im Toberaum auf den Matratzen, lassen sich fallen oder raufen miteinander. Obwohl es draußen regnet, zieht es einige Kinder ins Freie. Mit nackten Füßen patscht ein Mädchen durch eine Pfütze. Schnell wird klar: Diese Kita ist anders als andere. Das findet auch die Jury des Deutschen Kita-Preises. Im Mai hat sie die städtische Einrichtung in Halle als „Kita des Jahres 2023“ mit 25.000 Euro Preisgeld ausgezeichnet.
„Wir trauen den Kindern zu, dass sie ihre Wege gehen und ihre Wege finden“, beschreibt Leiterin Silke Hajeck den pädagogischen Ansatz der Kita, in der rund 110 Kinder zwischen vier Monaten und sieben Jahren betreut werden. „Alles, was wir machen, richtet sich echt am Kind aus.“
Das bedeutet: Es gibt nur wenige Regeln, ansonsten können sich die Kinder austoben. Feste Zeitpläne sind bei Hajeck und ihrem Team tabu, die Kinder können ihre Zeit frei gestalten. Das gilt auch fürs Schlafen am Mittag. Die Erzieherinnen und Erzieher laden die Kinder ein, sich hinzulegen - sie müssen aber nicht. Wer noch munter ist, kann wach bleiben, und wer schläft, wird nicht geweckt. Schlafen können die Kinder zudem, wo sie wollen, ob im Garten oder in einer Ecke.
Die Küche ist ganz im Vintage-Stil eingerichtet, mit gemusterten Tapeten, gepolsterten Holzstühlen und einem alten, ovalen Tisch. Beim Essen können die Kleinen selbstbestimmt entscheiden: Von 11 Uhr bis 13:30 Uhr gibt es ein Mittagsbuffet. Die Jungen und Mädchen kommen mit ihren Tellern, nehmen sich ein, zwei kleine Würstchen und ertränken sie in Soße. Auf dem Weg zum Platz tropft die auch mal vom Teller - Silke Hajeck schimpft nicht, sondern wischt die Flecken einfach zusammen mit den Kindern auf.
„Wir sind schon etwas einzigartig“, sagt die Kita-Leiterin. Als sie 2016 die Leitung der damals neu gebauten Einrichtung übernommen hat, habe sie einen Ort für glückliche Kinder schaffen wollen. „Da sagt nicht ein Erwachsener, heute wollen wir malen oder singen, sondern wir entscheiden mit den Kindern.“ Wichtig sei eine Kommunikation auf Augenhöhe.
Mit diesem pädagogischen Ansatz ist Silke Hajeck nicht nur auf Gegenliebe gestoßen. „Von den ursprünglichen sechs Mitarbeitern ist nur eine übrig geblieben“, erinnert sie sich. „Viele können mit der Idee, dass Kinder eigene Entscheidungen treffen, schlecht leben.“ Fast drei Jahre habe es gedauert, bis sie sich ein passendes Team zusammengestellt habe, das aber mittlerweile gut zusammenarbeite. Mit den Problemen zahlreicher Kitas in Deutschland - Raumnot und Personalnotstand - habe Heide-Süd derzeit nicht zu kämpfen.
Mit manchen Eltern und ihren Vorbehalten schon. In dem schicken Neubaugebiet am Stadtrand von Halle habe es anfangs Diskussionen um das Konzept gegeben, erzählt Hajeck. Einige hätten ihre Kinder aus der Kita herausgenommen, obwohl sich die Kleinen wohlgefühlt hätten.
Das Etikett, Heide-Süd sei eine „Kita ohne Regeln“, weist die Leiterin ausdrücklich zurück. So müssten in der Küche beispielsweise Schuhe getragen werden, falls mal ein Glas herunterfällt. Nach dem Spielen sollen die Kinder ihre Sachen aufräumen. Und wenn ein Stoppschild an der Treppe stehe, dürften sie nicht nach oben gehen. Doch grundsätzlich gelte der Grundsatz: „Wir müssen die Systeme an die Kinder, nicht die Kinder an die Systeme anpassen.“
Diesen Grundsatz teilt auch die Kita-Expertin Ilse Wehrmann aus Bremen. In ihrem gerade erschienenen Buch „Der Kita-Kollaps“ nennt sie die Hallenser Einrichtung ihre „Traum-Kita“. „Es gibt Handwerkstage, Projektwochen und mehrtägige Ausflüge, einfach viele Gelegenheiten für neue Abenteuer. Da ist jeder Tag spannend“, sagte Wehrmann im epd-Gespräch. „Wer jetzt denkt, dass es dort keine Regeln gibt, irrt sich. Das alles funktioniert nur mit einer Struktur. Einer Struktur, die Freiräume eröffnet.“
An diesem Vormittag sitzt Matthias Grabe vor dem Toberaum, der komplett mit Matratzen ausgelegt ist, so dass die Kinder herumtollen und sich auch mal ordentlich auspowern können. Über sein Smartphone spielt er Musik ein. „AC/DC ist oft sehr gefragt, Heavy Metal oder 'We will rock you' von Queen“, erzählt der 46-Jährige. „Ich kann hier das tun, was mir selber Spaß macht“, sagt der Erzieher, der seit fünf Jahren in Heide-Süd arbeitet. „Ich wollte in eine Kita mit einem offenen Konzept, und ich finde es wunderbar.“
Dass man den Kindern hier einiges zutraut, zeigt sich auch in der Werkstatt: Sie können sich an der Säge oder der Heißklebepistole ausprobieren, ihrer Neugier freien Lauf lassen. Heinrich Wiorek ist gerade am Ende seiner Ausbildung zum Erzieher, macht in der Kita sein letztes Praktikum. Er gibt zu bedenken: Manchmal müssten Kinder auch für anderes motiviert werden, „wenn sie sich nur mit einer Sache beschäftigen“.
Den Kindern sind Diskussionen um Kita-Konzepte indes herzlich egal. „Der Toberaum und die Werkstatt sind toll, da können wir Äxte oder Holzschwerter bauen“, erzählt der sechsjährige Mats. Die gleichaltrige Olivia zieht es eher nach draußen: „Die Kita hat ein Gewächshaus und einen Garten, der macht Spaß.“