Frankfurt a.M. (epd). Es war „eine Horrorerfahrung“, sagt Annelie Bentis (Name geändert): „Meine Gedankenstimme hatte sich ständig in die Stimme anderer Menschen verwandelt.“ Wenn sie etwa dachte „Ich muss noch einkaufen gehen“, hörte sie das in ihrem Kopf mit der Stimme einer Nachbarin. Manchmal war es auch die Stimme eines Filmstars. Das ging so sieben Jahre lang. Annelie Bentis fand es grauenvoll, fremde Stimmen zu hören. Hinzu kam die Angst vor Stigmatisierung: „Ich konnte darüber mit niemandem sprechen.“
Laut Björn Schlier vom Institut für Klinische Psychologie der Uni Hamburg hören zwischen drei und sieben Prozent aller Menschen in Deutschland Stimmen. Psychische Erkrankungen wie eine Psychose zählen zu den Hauptursachen. „Stimmenhören“ kann laut Schlier sehr belastend sein. Zum Beispiel, weil diese Stimmen unerwünschte Anweisungen geben oder einen beleidigenden Inhalt haben.
Annelie Bentis wusste lange nicht, was mit ihr los war: „Mit 22 erhielt ich die Diagnose Schizophrenie.“ Angefangen hatte es bei ihr im Alter von 18 Jahren. Heute ahnt die junge Frau aus der Pfalz, dass schwere Traumata hinter ihrer Erkrankung stecken. Damit meint sie vor allem „stundenlange Psychofolter“ ihres Ex-Mannes, den sie mit 18 Jahren geheiratet hatte. Sie begann schließlich, ihre Traumata aufzuarbeiten. Annelie Bentis sagt, mit therapeutische Hilfe sei es ihr gelungen, sich von ihren Stimmen zu befreien.
Anna Helm (Name geändert) unterstützt als Genesungsbegleiterin Menschen, die Stimmen hören. Als sie zum ersten Mal damit konfrontiert wurde, dass es Menschen gibt, die Stimmen hören, sei sie „sehr befremdet“ gewesen, gibt die 72-Jährige zu. Anna Helm ist selbst psychisch krank, sie leidet unter Depressionen.
„Eine Frau aus unserer Gruppe für Menschen, die Stimmen hören, wurde einmal, als sie entlang der Autobahn lief, ständig von einer Stimme aufgefordert, sich vor ein Auto zu werfen“, berichtet Anna Helm. Bei einem anderen Mitglied der Gruppe hätten Stimmen verboten, Sport zu treiben. Auch Anna Helm sagt, dass Stimmenhörer unter dem leiden, was in ihrem Kopf vor sich geht und Stigmatisierung befürchten: „Viele haben Angst, ihre Wohnung zu verlassen, weil sie komisch angeguckt werden, wenn sie mit ihren Stimmen reden.“
In der christlichen Religion seien Stimmen nichts Unbekanntes, sagt Jörg Urbschat, evangelischer Theologe aus der niedersächsischen Gemeinde Seevetal. Urbschat ist nicht nur Theologe, sondern auch ausgebildeter „Visionssucher“. Bei der „Visionssuche“ beschäftigen sich die Teilnehmer sowohl praktisch als auch spirituell mit Themen, die das Überleben in freier Natur betreffen. Urbschat bietet hierzu Seminare an. Die Teilnehmer werden dabei aufgefordert, in einen Dialog mit der Natur zu treten. Manche erzählen davon, dass sie eine „Stimme“ der Natur wahrgenommen haben.
An der Uniklinik Aachen befasst sich der Psychosomatiker Klaus Mathiak mit dem Stimmenhören. Nach seinen Erfahrungen wollen Menschen mit chronischen Halluzinationen ihre Stimmen nicht unbedingt loswerden. „Sie möchten damit nur besser umgehen können.“ Durch psychotherapeutische Verfahren könne das auch gelingen.
Thomas Mann, Krankenpfleger für Psychiatrie und Soziotherapeut in Lübeck, beschäftigt sich seit 2010 mit dem Phänomen Stimmenhören. Für nicht wenige Menschen sei es völlig normal, mit ihren Stimmen zu kommunizieren, sagt der Koordinator des Lübecker „Netzwerks Stimmenhören“. „Für andere sind die Stimmen derart quälend, dass sie davon fast in den Suizid getrieben werden.“ Selbst ihnen könne es gelingen, mit den Stimmen als „Mieter“ im Kopf einvernehmlich zu leben.