Frankfurt a.M. (epd). Freudestrahlend betritt die Siebenjährige die Wohnung. Sie kommt von ihrem Besuch beim getrennt lebenden Papa zurück und berichtet, dass es schön gewesen sei. Die älteren Geschwister bestürmen sie, wie böse der Papa doch sei. Die Mutter greift nicht ein. Nach zwei Stunden in der Wohnung der Mutter und im Kreis der Geschwister sagt das Kind unerwartet: „Ich hasse meinen Vater!“ Der Fall dokumentiert eine Eltern-Kind-Entfremdung, wie Hans-Jürgen Noske berichtet.
„Um dem anderen Elternteil eins auszuwischen, werden Kinder oft als Waffe missbraucht“, hat Noske in vielen Jahren als gerichtlicher Verfahrensbeistand für das Kindeswohl im Rhein-Main-Gebiet erlebt. 2009 wurde ein neues Verfahrensrecht in Kraft gesetzt, das die Rechte der Kinder stärkt, denen seither ein Verfahrenspfleger beisteht, der vom Familiengericht bestellt wird.
Noske berichtet weiter, dass es auch häufig ein finanzielles Interesse gibt, mit dem Kind Barunterhalt vom Expartner fordern zu können. In dem Loyalitätskonflikt zwischen beiden Elternteilen übernehme das Kind aus Selbstschutz die Sicht desjenigen Elternteils, bei dem es dauerhaft wohnt - mit gravierenden Folgen.
Ein Kind muss nach der Entfremdung von einem Elternteil Gefühle unterdrücken, Liebe verleugnen und Schmerz aushalten, wie der Psychologe Stefan Rücker erläutert, der die Forschung in der Jugendhilfeeinrichtung „Projekt PETRA“ im osthessischen Schlüchtern leitet und an der Universität Bremen lehrt.
Zu den Folgen gehörten ein nach verschiedenen Studien sechs- bis 14-fach erhöhtes Risiko, an Depressionen zu erkranken, im Jugendalter ein hohes Risiko des Alkohol- und Drogenmissbrauchs und im Erwachsenenalter überdurchschnittlich häufig problematische und instabile Partnerbeziehungen. „Der Verlust eines Elternteils durch Entfremdung hat für die seelische Gesundheit der Kinder schwerwiegendere Folgen als dessen Verlust durch Tod.“
In jedem fünften Fall einer Trennung von Eltern in Deutschland reiße der Kontakt der Kinder zu einem Elternteil ab, berichtet Rücker. Rund 40.000 bis 60.000 Kinder und Jugendliche jährlich verlören so die Bindung an ein Elternteil. Neben legitimen Gründen einer Distanz, etwa Gewalttätigkeit, seien 30.000 bis 40.000 Fälle erklärbar durch die vom anderen Elternteil herbeigeführte Entfremdung. Anders als bei körperlicher Misshandlung oder Vernachlässigung werde die Not dieser Kinder nicht gesehen, kritisiert der Psychologe: „Den gebrochenen Knochen sehen Sie im Röntgenbild, die gebrochene Kinderseele nicht.“
Begünstigt wird eine Entfremdung dadurch, dass in Deutschland rund 85 Prozent der Kinder getrennter Eltern bei einem Elternteil wohnen und das andere nur kurzzeitig besuchen. Die Aufteilung zwischen Papa und Mama erfolgt sehr ungleich: 88 Prozent der Kinder leben nach dem Väterreport 2021 des Bundesfamilienministeriums bei den Müttern, nur zwölf Prozent bei den Vätern. Knapp zwei Drittel der Väter fühlten sich bei der Regelung des Sorgerechts und der Betreuungszeiten benachteiligt.
Gerichte gingen in Familienverfahren vom Istzustand aus, erklärt die Richterin am Oberlandesgericht Frankfurt, Kerstin Wierse. Das sei in der Regel das „Residenzmodell“, nach dem ein Kind vornehmlich bei einem Elternteil lebt. Das Gericht könne auch ein Wechselmodell mit gleicher oder unterschiedlicher Zeitverteilung anordnen. Allerdings müssten die Eltern sich dann abstimmen können, wer welche Entscheidung für das Kind trifft. Bei Pflichtverletzungen eines Elternteils könne das Gericht einen Umgangspfleger bestellen, der das Umgangsrecht des anderen Elternteils sicherstellt.
Im Gegensatz zur verbreiteten Praxis in Deutschland gibt es nach Angaben des Psychologen Rücker international 60 bis 70 Studien, die zeigten, dass Kinder, die im Wechsel von beiden Elternteilen betreut werden, geringer belastet und an der Schule erfolgreicher seien. Verbände von getrennt Lebenden und von Großeltern fordern entsprechend eine gemeinsame Elternschaft.
Das überholte Rollenmodell, eine betreut und einer bezahlt, mache die Kinder zu Halbwaisen, kritisiert der Verein „Getrennterziehende Papa Mama auch“. Ein Bündnis fordert mit der Kampagne „Genug Tränen. Kinder brauchen beide Eltern!“ Gleichberechtigung in der Elternschaft und ein Ende der Eltern-Kind-Entfremdung bis 2023.
Voraussetzung für das Kindeswohl ist nach den Worten von Rücker eine Mäßigung des Konfliktes der Expartner. In Trennungsverfahren fehlten aber Angebote für Eltern, ihre Gefühle wie Liebeskummer, Ohnmacht, Zorn, Perspektivlosigkeit regulieren zu lernen. „Wenn die Eltern sich wie die Kesselflicker kloppen, nützt eine Therapiestunde für das Kind nichts.“ Hier bestehe dringender Handlungsbedarf.
Kindern gehe es am besten, wenn sie regelmäßigen Kontakt zu beiden Elternteilen haben, diese vernünftig miteinander umgehen und einen liebevollen Erziehungsstil pflegen. Der Psychologe resümiert: „Man darf die schmalen Schultern der Kinder nicht zum Austragungsort des Rosenkriegs machen.“