Berlin (epd). Die große Wohnung im Vorderhaus ist hell und modern eingerichtet. In der geräumigen Wohnküche stehen zwei Tische, in der Ecke ein Regal mit Pinseln, Farben und Büchern. Auf den Tischen sind Schalen mit Obst und Schokoriegeln verteilt. Am Herd steht eine Frau und kocht. Heute Abend gibt es Bratwurst, Rosenkohl und Klöße. Es ist warm und gemütlich hier drinnen, egal wie kalt es draußen wird. Heute kocht Sabine, die in Wirklichkeit anders heißt.
Sabine, saubere Kleidung, gepflegtes und freundliches Auftreten, ist obdachlos. Wie es dazu gekommen ist, dass sie hier übernachtet, will sie nicht erzählen. Hier, in der Frauennotübernachtung „Marie“ der Koepjohann'schen Stiftung in Berlin-Mitte, muss sie das auch nicht. „Wir sind eine niedrigschwellige Hilfe. Wir wollen nicht einmal einen Ausweis sehen. Die Frauen können hier essen, duschen, Wäsche waschen und schlafen“, erklärt Sozialarbeiterin Judith Lahme das Konzept der Notübernachtung.
Jede Frau kann bis zu 28 Nächte bleiben, wobei sie jeden Abend pünktlich kommen muss, um einen Schlafplatz zu bekommen. Normalerweise gibt es zehn Schlafplätze. Aufgrund der Corona-Pandemie können aber nur sechs davon geöffnet werden. Auch hier gibt es ein Corona-Schutzkonzept: Raumluftfilter, Lüftungspläne, regelmäßiges Testen, Maskenpflicht in den Räumen außer am Platz.
Was ein Lockdown für obdachlose Frauen bedeutet, erklärt Lahme: „Bleiben Sie zuhause, waschen Sie sich die Hände, halten Sie Abstand. Nichts davon funktioniert für Obdachlose.“ Maske tragen und regelmäßiges Testen stelle für die Frauen eine große Belastung dar. Auch die meisten Einnahmequellen seien weggefallen, wie Zeitungsverkauf und Flaschensammeln. „Es scheint, als habe man eine nicht ganz so kleine Bevölkerungsgruppe völlig vergessen“, findet die Sozialarbeiterin.
Wie viele Frauen in Berlin auf der Straße leben, ist nicht bekannt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gibt an, dass der Anteil von Frauen unter Obdachlosen steigt, und geht von einem Anteil von 26 Prozent aus. „Frauen in einem Wohnungsnotfall brauchen sichere Schutzräume, niedrigschwellige Zugänge zu Hilfeangeboten und eine bedarfsgerechte Beratung und Unterstützung. Dies gilt im verstärkten Maße für Frauen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben“, sagt Sabine Bösing, stellvertretende Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft.
Für die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) ist klar: „Für obdachlose Frauen ist das Leben auf der Straße besonders hart und gefährlich. Viele von ihnen sind von sexualisierter Gewalt betroffen.“ Viele obdachlose Frauen bevorzugen daher Einrichtungen, die nur für Frauen konzipiert sind - wie die Notübernachtung „Marie“.
„Auf der Straße drohen Frauen ganz andere Gefahren als Männern und ganz andere Formen der Gewalt“, sagt auch Sozialarbeiterin Lahme. Sie berichtet außerdem von einer „verdeckten Wohnungslosigkeit bei Frauen“: Die Frauen gingen gewaltgeprägte Beziehungen ein, um Wohnraum zu haben.
Die Beratung in der Notübernachtung „Marie“ ist freiwillig. Es dauere, bis die Frauen Vertrauen fänden, erklärt Lahme. Dafür helfen Tage wie dieser Dienstag: Statt wie sonst um 18 Uhr öffnet die Notübernachtung schon um 15 Uhr. Viele Frauen beginnen irgendwann zu erzählen. „Zu uns kommen Frauen, die aus gewalttätigen Beziehungen fliehen. Es kommen auch Frauen, die der Gentrifizierung zum Opfer gefallen sind“, sagt Lahme. Sie berichtet von Frauen, die aufgrund von Schimmel die Miete mindern und auf einmal auf der Straße sitzen, erzählt von Eigenbedarfskündigungen und einem immer enger werdenden Wohnungsmarkt in Berlin.
Die Sozialarbeiterin ist wie viele Fachleute in der Wohnungslosenhilfe überzeugt vom Konzept „Housing First“. Dabei werden obdachlose Menschen in einer eigenen Wohnung untergebracht und langfristig betreut. In Berlin bietet der Sozialdienst Katholischer Frauen „Housing First“ für Frauen an. Mithilfe des Projekts werden bis Ende des Jahres etwa 40 Frauen eine eigene Wohnung haben, rund 140 Frauen stehen auf der Warteliste. Auch Sabine Bösing von der Arbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe fordert: „Die Vermittlung in Wohnraum bleibt das oberste Ziel.“
In der Wohnküche der Notübernachtung „Marie“ sitzen jetzt drei Frauen. Zwei trinken schweigend ihren Tee. Eine dritte Frau redet ununterbrochen. Sie nennt sich Barbara, sei 1945 in Polen geboren. Sie erzählt von einem Leben als Zimmermädchen in Poznan und von ihrer Krebserkrankung. „Obdachlose sind wie Tiere“, sagt sie. Ihr stehen Tränen in den Augen, als sie von ihrer Kindheit in Polen und von ihrem jetzigen Leben erzählt. Die anderen Frauen ignorieren sie.
Sozialarbeiterin Lahme erklärt: „Viele Frauen, die länger auf der Straße leben, sind traumatisiert und schwer psychisch krank.“ Für diese Frauen bräuchte es andere Hilfen. „Wir können viel erreichen, wenn die Frauen neu sind im Hilfesystem.“ Je länger die Frauen auf der Straße lebten, desto schwieriger werde es, ihnen zu helfen. Um so wichtiger sei es, mit den Frauen ins Gespräch zu kommen. So wie hier bei Bratwurst, Rosenkohl und Klößen.