sozial-Politik

Armut

Butterwegge: Pandemie hat soziale Ungleichheit erkennbar gemacht




Christoph Butterwegge
epd-bild/Guido Schiefer
Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge beklagt, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland durch die Corona-Pandemie weiter verstärkt worden sei. Am 18. August ist sein Buch "Kinder der Ungleichheit" erschienen, das er gemeinsam mit seiner Frau Carolin Butterwegge geschrieben hat.

Köln (epd). Im Gespräch mit dem Evangelische Pressedienst (epd) spricht der ehemalige Hochschulprofessor Butterwegge auch darüber, was Armut in Deutschland bedeutet, welche Folgen beengtes Wohnen hat und wie sich soziale Ausgrenzung manifestiert. Und er zeigt auch den Zusammenhang von Klima- und Sozialpolitik auf. Die Fragen stellte Franziska Jünger.

epd sozial: Herr Butterwegge, man könnte meinen, Corona ist kein Virus der Ungleichheit, weil es uns alle trifft und beeinflusst. Ganz so ist es aber nicht, oder?

Christoph Butterwegge: Nicht das Virus erzeugt Ungleichheit, sondern die Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die Wohn-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse sind extrem unterschiedlich. Ein Virus, das alle Menschen gleich schlecht behandelt, trifft auf soziale Ungleichheiten, die dadurch klarer zutage treten. Das halte ich übrigens für positiv an der Pandemie: Vielen Menschen ist durch sie erst bewusst geworden, dass es einen riesigen Unterschied macht, ob ein Kind im Eigenheim der Eltern mit Garten aufwächst und wie selbstverständlich digitale Endgeräte zur Verfügung hat, oder ob es mit seiner Familie in einer Zwei- oder Dreizimmerwohnung ohne Balkon lebt und sich den Computer mit Eltern und Geschwistern teilen muss. Dass dies sehr ungleiche Bildungschancen der betreffenden Kinder und Jugendlichen nach sich zieht, lässt sich nicht mehr leugnen.

Die Pandemie hat die soziale Ungleichheit aber nicht nur deutlicher erkennbar gemacht, sondern sie auch verschärft. Das betrifft beispielsweise Wohnungs- und Obdachlose, die nicht zuhause bleiben konnten, oder Werksvertragsarbeiter in der Fleischindustrie, die sich sowohl an ihrem Arbeitsplatz als auch in ihren Gemeinschaftsunterkünften leichter anstecken konnten.

epd: Soziale Ungleichheit ist erst einmal ein sehr abstrakter Begriff: In welchen Bereichen des Lebens ist diese Ungleichheit denn besonders ausgeprägt und sichtbar?

Butterwegge: Grundlegend sind die Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Vor allem die Vermögen sind in Deutschland sehr ungleich verteilt. Auf der einen Seite gibt es so viele reiche Kinder wie noch nie. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung besitzen 45 Familien in Deutschland so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung - mehr als 40 Millionen Menschen. Auf der anderen Seite leben etwa 1,9 Millionen Kinder von 13,6 Millionen in sogenannten Hartz-IV-Familien. Da gibt es kein Vermögen, höchstens negatives, also Schulden.

Ähnlich ungleich wie Einkommen und Vermögen sind die Bildungschancen der Kinder verteilt. Das gilt auch für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen. Ein immer noch unterschätzter Lebensbereich ist aus meiner Sicht das Wohnen. Eine Familie, die im 25. Stock eines Hochhauses am Stadtrand lebt, wohnt da natürlich nicht der Aussicht wegen, sondern weil sie nur wenig Geld hat und dort die Miete niedrig ist. Wer an einer Schnellstraße und in beengten Wohnverhältnissen ohne eigenes Zimmer aufwächst, hat eine geringere Lebenserwartung. In einem Nobelstadtteil mit von privaten Sicherheitsdiensten bewachten Villen kann höchstens der Gärtner oder die Haushälterin das Coronavirus einschleppen.

epd: Wann ist denn ein Mensch in Deutschland arm? Woran bemisst sich das?

Butterwegge: Es werden meistens zwei Messlatten angelegt. Eine ist der Bezug von Sozialtransfers. Würde man diese erhöhen, gäbe es aber mehr Kinder im Hartz-IV-Bezug, weil sie dann mehr Eltern beantragen könnten. Deswegen ist die andere Messlatte geeigneter: Nach einer Konvention der Europäischen Union ist armutsbedroht, wer in einem Mitgliedsland weniger als 60% des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Nach Zahlen von 2019, also vor der Pandemie, ist das bei einem Alleinstehenden in Deutschland der Fall, wenn er weniger als 1.074 Euro im Monat zur Verfügung hat. Hat ein Paar zwei Kinder unter 14 Jahren, liegt die Armutsrisikoschwelle der Familie bei 2.255 Euro. Rund 2,8 Millionen Kinder unter 18 Jahren wachsen in Familien auf, die armutsbedroht oder einkommensarm sind.

epd: Armut in Deutschland ist also natürlich etwas ganz anderes als in anderen Teilen der Erde. Ist sie deswegen weniger schlimm?

Butterwegge: Armut in einem reichen Land kann erniedrigender, demütigender und deprimierender sein als Armut in einem armen Land. Zwar muss jemand, der Hartz IV bezieht, nicht hungern oder gar verhungern. Aber er wird von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt, ausgegrenzt und verachtet, fühlt sich deshalb meist als Loser, schämt und versteckt sich.

Absolut arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann - also Hunger, kein sicheres Trinkwasser, kein Obdach, keine angemessene Kleidung oder medizinische Grundversorgung hat. Das gibt es auch in Deutschland, obwohl bei uns so getan wird, als gäbe es nur relative Armut. Relativ arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse befriedigen kann, sich aber vieles von dem nicht leisten kann, was in einer so reichen Gesellschaft wie unserer als normal gilt - Freunde einzuladen und mal ins Kino, Theater oder Restaurant zu gehen.

epd: Welche Kinder und Familien sind denn besonders von dieser Armut betroffen?

Butterwegge: Nach dem EU-Kriterium stehen an der Spitze der Hauptrisikogruppen die Arbeitslosen mit einem Armutsrisiko von über 57 Prozent. Bei Alleinerziehenden sind es über 42 Prozent und bei Menschen ohne deutschen Pass über 35 Prozent. Wenn eine alleinerziehende Mutter ohne Arbeit zwei und mehr Kinder hat, liegt ihr Armutsrisiko sogar über 60 Prozent. Das hat dann Auswirkungen auf Bildung, Gesundheit und Wohnsituation der Kinder.

epd: Durch ehrenamtliches und karitatives Engagement versuchen privilegiertere Menschen ärmeren zu helfen. Sie beschreiben in Ihrem Buch am Beispiel der Lebensmitteltafeln, dass dies auch problematisch sein kann. Wieso?

Butterwegge: Zivilgesellschaftliches Engagement beseitigt nicht die Ursachen des Problems. Wenn man als Ehrenamtler bei einer Lebensmitteltafel hilft, ist das zwar aller Ehren wert, ändert jedoch nichts an den für Armut und soziale Ungleichheit verantwortlichen Strukturen. Man geht also nicht an die Wurzel des Übels, sondern erleichtert es den politischen Verantwortlichen sogar, sich ihrer Verantwortung zu entledigen und den Sozialstaat rückzubauen. Würden die Deutschen aus einem Volk der Dichter und Denker zu einem Volk der Stifter und Schenker, könnten Wohlhabende und Reiche entscheiden, welchen Armen wie geholfen wird und wohin sich die Gesellschaft als ganze entwickelt. Dafür gibt es aber demokratisch legitimierte Gremien. Karitatives Engagement kann den Sozialstaat ergänzen, darf ihn aber nicht ersetzen.

epd: Was kann und sollte denn aus Ihrer Sicht konkret auf politischer Ebene gegen die Ungleichheit und Armut von Kindern getan werden?

Butterwegge: Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Man muss daher bei den Eltern anfangen und deren Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern. Wenn man das tut, verbessert sich auch das Leben der Kinder. Mein erster Punkt: Nötig ist ein sehr viel höherer Mindestlohn, der weit mehr als zwölf Euro betragen sollte. Beim derzeit geltenden Mindestlohn von 9,60 Euro brutto pro Stunde kann man selbst in Vollzeit keine Familie ernähren.

Der zweite Punkt betrifft eine solidarische Bürgerversicherung, in die alle Wohnbürger einzahlen, auch Freiberufler, Selbstständige, Beamte, Abgeordnete und Minister. Auf alle Einkünfte müssten Beiträge erhoben werden, nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auch auf Kapitaleinkünfte, Zinsen und Dividenden oder Mieterlöse. Dann hätte man den Sozialstaat auf eine solide finanzielle Grundlage gestellt und könnte darin eine soziale Grundsicherung einlassen, die anders als Hartz IV armutsfest, bedarfsgerecht und repressionsfrei ist, also ohne Sanktionen auskommt. Das von den meisten Anspruchsberechtigten gar nicht beantragte, weil bürokratische Bildungs- und Teilhabepaket gehört abgeschafft. Dafür müssten insbesondere die Kinderregelsätze deutlich erhöht werden.

Drittens: Wenn man die Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen höher besteuern würde, ließe sich die Zahl der armen Kinder reduzieren. Kapital- und Gewinnsteuern sind seit Jahrzehnten auf Talfahrt. Damit der Staat die soziale, Bildungs- und Betreuungsstruktur ausbauen kann, müssen sie wieder auf das frühere Niveau gebracht werden. Armutsbekämpfung ist teuer, aber ebenso dringlich wie der Klimaschutz.

epd: Mit Blick auf die Bundestagswahl: Welche Rolle werden da aus Ihrer Sicht Fragen von Armut und Reichtum spielen? Hängen sie mit der Klimafrage zusammen?

Butterwegge: Klima- lässt sich nicht ohne Sozialschutz gewährleisten und umgekehrt. Zwar kann der Kapitalismus „grüner“ werden, aber einen grünen Kapitalismus wird es nicht geben, weil die soziale Ungleichheit ökologische Nachhaltigkeit verhindert. So lange hohe Gewinne locken, so lange wird auch Raubbau an Arbeitskräften und an der Natur stattfinden, gerade im Finanzmarktkapitalismus. In der „Fridays-for-Future“-Bewegung zieht man daraus die Schlussfolgerung, dass die Klimawende einen Systemwechsel erfordert. Um das Klima wirksam zu schützen und die drohende Klimakatastrophe abzuwenden, muss man an die bestehenden Wirtschaftsstrukturen heran. Denn sie erzeugen immer wieder Armut und Reichtum.

epd: Zuletzt gab es viel Streit, darum wie der Klimaschutz sozialverträglich gestaltet werden kann. Wie kann das aus Ihrer Sicht gelingen?

Butterwegge: Ungeeignet ist die Scheinlösung der Union, die Entfernungspauschale anzuheben. Davon würden nur Menschen profitieren, die Einkommensteuer zahlen. Wer das nicht tut, weil er zu wenig verdient, hat gar nichts davon. Der Manager, der weite Wege zur Arbeit fährt, hat mehr davon als der pendelnde Geringverdiener, dem ein steigender Benzinpreis zusetzt. Das Energiegeld der Grünen ist gerechter, erinnert aber fatal an das bedingungslose Grundeinkommen - Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip. Über allen den gleichen Geldbetrag auszugießen, ist nicht gerecht. Damit es gerecht zugeht, muss man Gleiche gleich und Ungleiche ungleich behandeln, wie schon die griechischen Philosophen der Antike wussten.

epd: Was schlagen Sie vor?

Butterwegge: Ich wünsche mir unabhängig vom Benzinpreis - denn die meisten Armen haben ja gar kein Auto - eine Regierungspolitik, die Ärmere besserstellt. Dann könnten sie auch leichter höhere Strom- und Energiepreise zahlen. Wenn man die Energiearmut der Familien bekämpft und beim Hartz-IV-Satz den für Strom gedachten Betrag erhöht, würde das den Armen jedenfalls mehr nützen, als wenn man die Entfernungspauschale anhebt. Manches, was die etablierten Parteien und ihre Spitzenpolitiker vorschlagen, ist halbherzig oder heuchlerisch. Wie man aus der Flutkatastrophe dieses Sommers zwar den Schluss ziehen kann, dass „mehr Tempo beim Klimaschutz“ (Armin Laschet) nötig ist, ohne ein Tempolimit auf den Autobahnen vorzusehen, erschließt sich mir nicht. Wer es mit dem Klimaschutz ernst meint, kommt auch um Verbote und schärfere Auflagen nicht herum. Verbote sind im Prinzip gerechter als drastische Preiserhöhungen, weil Arme darunter leiden und Reiche darüber lachen.