Kirche und Politik

Beharrlich an der Veränderung der Kirche gearbeitet

Vor 50 Jahren wurde in Württemberg die "Offene Kirche" gegründet

Von Marcus Mockler (epd)

Stuttgart (epd). Der Marsch durch die Institutionen ist gelungen. Als die Evangelische Vereinigung „Offene Kirche“ (OK) am 8. Juli 1972 gegründet wurde, stand sie vor allem in Opposition zu einer theologisch konservativen Mehrheit in kirchenleitenden Gremien. Inzwischen ist die OK selbst mächtige kirchenpolitische Akteurin und stellt mit 31 Sitzen sogar den stärksten Gesprächskreis im „Kirchenparlament“, der Landessynode.

Entstanden ist die Gruppierung aus dem Geist der 68er-Bewegung. Demokratisierung, Friedensengagement, Gleichstellung von Frauen und Homosexuellen in der Kirche, Bewahrung der Schöpfung, soziale Gerechtigkeit - diese Themen spielten in den Gründerjahren eine Rolle, und sie sind heute noch aktuell. So kämpft der Gesprächskreis in der Landessynode weiterhin dafür, rechtliche Unterschiede zwischen heterosexuellen und homosexuellen Paaren zu beseitigen, wo es um die kirchliche Trauung geht.

Vorausgegangen waren der Gründung Zusammenschlüsse wie die „Kritische Kirche“ (1968) und die „Aktion Synode 71“. Inhaltlich ging es den Initiatoren vor allem darum, die Evangelische Landeskirche in Württemberg für neuere theologische Ansätze zu öffnen, etwa für die „Entmythologisierung“ der Bibel im Sinne Rudolf Bultmanns. Darum tobte in jenen Jahren ein heftiger Streit. Pietistische Kreise warnten vor dieser Theologie aus Sorge, sie würde das Vertrauen in die Heilige Schrift als Wort Gottes erschüttern. Die Drohung des Auswanderns der theologisch Konservativen stand im Raum, von Kirchenspaltung war die Rede.

Sprachlich waren die Auseinandersetzungen jener Jahre selten von einem warmherzigen Geist geprägt. „Die Mehrheitsgruppe empfanden wir als arrogant, manchmal gewalttätig“, schrieb die Leonberger Synodalin Anne-Lore Schmid zum 25-jährigen Bestehen der OK. Fritz Röhm wiederum, einer der Gründerväter der OK, belegte die evangelikale Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ in einem Rückblick mit dem Begriff „militante Abwehrformation“.

Aus dem Gegeneinander der Gründerzeit ist inzwischen ein Miteinander geworden. Der Ton in der Landessynode klingt heute freundlich-verbindlich. Viele Synodale der theologisch konservativen „Lebendigen Gemeinde“ und der „Offenen Kirche“ duzen einander. Bei der Besetzung kirchenleitender Ämter wird darauf geachtet, die verschiedenen Gesprächskreise angemessen zu berücksichtigen.

Die friedliche Koexistenz bedeutet allerdings nicht, dass die OK von ihren Programmpunkten Abstriche gemacht hat. Sie hat zwar in der Vergangenheit auch dem einen oder anderen Kompromiss zugestimmt, ohne dabei jedoch ihr inhaltliches Profil zu verwischen. Das zeigt sich etwa bei ihrem Umgang mit der Kirchenverfassung. Noch vor der jüngsten Kirchenwahl 2019 forderte die OK, synodale Gesprächskreise sollten Verfassungsrang bekommen und der Oberkirchenrat durch die Landessynode kontrolliert werden. Dazu soll es kleine und große Anfragen sowie die Möglichkeit von Untersuchungsausschüssen geben. So viel „weltlicher“ Parlamentarismus geht einem Großteil der anderen Synodalen allerdings viel zu weit.

Die Stärke in der Synode gibt der OK bei der bevorstehenden Bischofswahl am 17. März eine Sperrminorität. Da eine Person nur Bischof werden kann, wenn sie zwei Drittel der 91 synodalen Stimmen auf sich vereinigt, kann die OK jeden Kandidaten verhindern. Das alleine ist ein Erfolg, von dem die Gründergruppe vor 50 Jahren nur träumen konnte.

Gefeiert wird das halbe Jahrhundert an diesem Freitag, 21. Januar, gemeinsam mit der Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Anna-Nicole Heinrich, sowie Viola Schrenk, OK-Kandidatin für das württembergische Bischofsamt. Die beiden Rednerinnen werden den Angaben zufolge im Stuttgarter Hotel Silber über die Aufgabe und Verantwortung der Kirche für die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft sprechen. (0110/17.01.2022)

Vor dem Nichts

Vor 50 Jahren: "Radikalenerlass" wird beschlossen

Von Nils Sandrisser (epd)

Darmstadt/Heidelberg (epd). Frühsommer 1977. Der Pfarrvikar Gerhard Hechler steht kurz vor seiner Übernahme in den Pfarrdienst in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Im Amtsblatt der EKHN liest er dann aber, dass Pfarrvikarinnen und -vikare, die der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) angehören, nicht übernommen werden. Das bedeutet für ihn: Er steht vor dem Nichts.

„Das war ein großer Schock für uns, für mich und meine Familie“, erinnert Hechler sich heute. „Wir hatten damals vier Kinder und unsere Zukunft war bedroht.“

Am 28. Januar 1972 beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz, Bewerberinnen und Bewerber sowie Mitarbeitende im öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue zu überprüfen. „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ hieß der ministerielle Erlass. Im Volksmund sprach man bald nur noch vom „Radikalenerlass“.

Die Demokratie muss vor ihren Feinden geschützt werden. Der Erlass aber führte zu einer Polarisierung: Vor allem Konservative hatten Angst vor einer Unterwanderung des öffentlichen Dienstes durch Menschen, die sie als Linksextremisten betrachteten.

Im Jahr 1967 schon hatte der Studentenführer Rudi Dutschke zum „Marsch durch die Institutionen“ aufgerufen. Die Angst vor Linksextremen ging aber nicht nur wegen der Studentenproteste um, sondern vor allem wegen Anschlägen der RAF, der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen ab Ende der 1960er Jahre.

Auch der SPD machten linksgerichtete Strömungen in ihren Jugendorganisationen und in der Studentenschaft Sorgen. Zugleich wollte sie aber Vorwürfen von Konservativen vorbeugen, die Sozialdemokraten seien bloß Steigbügelhalter von Kommunisten. Es ging der SPD dabei um die flankierende Absicherung ihrer „Neuen Ostpolitik“. Seit 1969 suchte sie Ausgleich und Versöhnung mit den sozialistischen Nachbarn im Osten - eine Politik, die große Teile der CDU und CSU bekämpften, auch mit dem Argument, die SPD sei gegenüber den Kommunisten zu nachgiebig.

Diesem Eindruck wollten die Sozialdemokraten im Innern entgegentreten. Am 15. November 1970 fällte die SPD einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der DKP und ihr nahestehenden Gruppen. Zudem wollte die SPD/FDP-Bundesregierung unter Kanzler Willy Brandt (SPD) mit einer bundeseinheitlichen Regelung einem Flickenteppich vorbeugen. Denn erste Bundesländer hatten schon Erlasse auf den Weg gebracht, um Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst zu durchleuchten, zuerst der Hamburger Senat am 28. November 1971.

Die Angst vor Linksextremisten strahlte nicht nur auf Parteien und staatliche Stellen aus, sondern auf viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Auch auf die Kirchen, für die der „Radikalenerlass“ offiziell nie galt. Die Synode der EKHN hatte allerdings 1975 eine Unvereinbarkeit von DKP-Mitgliedschaft und Pfarrdienst beschlossen.

Ein Urteil ihres Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichts vom 11. Oktober 1977 bestätigte diesen Beschluss. Auch andere Kirchen fällten solche Beschlüsse. Manche wollten linke Pfarrerinnen und Pfarrer zwar einstellen, aber nicht verbeamtet, sondern nur im Angestelltenstatus.

Zwischen 1972 und 1991 wurden im Rahmen des Radikalenerlasses zwischen 1,8 und 3,5 Millionen Menschen überprüft. Die Zahlenangaben schwanken, weil es auf Bundesebene noch keine umfassende Forschungsarbeit gibt. Für etwa 10.000 der Überprüften senkte sich zunächst der Daumen, es kam zu einer Beanstandung.

Wie viele Menschen aber am Ende tatsächlich nicht eingestellt oder entlassen wurden, müsse noch genau erforscht werden, erklärt die Heidelberger Historikerin Birgit Hofmann, die gemeinsam mit ihrem Kollegen Edgar Wolfrum das Forschungsprojekt „Verfassungsfeinde im Land? Baden-Württemberg, '68 und der 'Radikalenerlass' (1968-2018)“ leitet. In Baden-Württemberg etwa, wo der „Radikalenerlass“ besonders scharf angewendet wurde, seien es wenige Hundert gewesen.

„Zum einen führte nicht jede Beanstandung, der ja auch eine Anhörung folgte, in der sich Bewerber oder Angestellte erklären konnten, automatisch zu einer Entlassung oder Ablehnung“, sagt Hofmann. Zum anderen hätten sich Abgelehnte auch vor Gericht erfolgreich gewehrt.

1993 gab der Europäische Gerichtshof einer Lehrerin Recht, die entlassen worden war, weil sie DKP-Mitglied war. Die Entlassung verstoße gegen die Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention, also gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, begründeten die Richter.

Für Gerhard Hechler und fünf weitere Pfarrvikarinnen und -vikare begann mit ihrer Nicht-Übernahme in den kirchlichen Dienst eine Zeit des Bangens. „Alle betroffenen Kolleginnen und Kollegen mussten in den folgenden Jahren immer wieder Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsstellungnahmen verfassen und sich verteidigen“, schildert Hechler. Er begann sicherheitshalber ein Studium der Sozialarbeit und schloss es ab.

Pfarrer wurde er dann aber doch noch. Die Kirchenleitung habe ihnen zugesichert, dass sie als Pfarrerinnen und Pfarrer auf Lebenszeit übernommen würden, sollten sie aus der DKP austreten. „Und so geschah es dann auch“, sagt Hechler.

Im Nachhinein hadert der heute 77-Jährige nicht mit den Geschehnissen dieser Zeit, auch wenn sie ihm im Nachhinein unnötig und überflüssig vorkommen. Aber: „Ich fühlte mich zu keiner Zeit unterdrückt oder einer Willkür ausgesetzt“, sagt er. Denn die EKHN habe er trotz allem immer auf Augenhöhe mit sich erlebt. Nach seiner Berufszeit war Hechler Pastor im russischen St. Petersburg und Vorsitzender des Gustav-Adolf-Werks Hessen-Nassau. (0109/17.01.2022)

Das lange Ende der "Radikalenerlasse"

Darmstadt/Heidelberg (epd). Der ministerielle Beschluss vom 28. Januar 1972 enthielt keine Definition darüber, was eine verfassungsfeindliche Aktivität sein soll. Die Entscheidung darüber lag bei den jeweiligen Behörden. Die unterschiedliche Praxis führte zu Angst bei angehenden Polizisten, Lehrerinnen, Bahn- oder Postbeamten, die sich politisch engagierten. Viele sprachen von „Berufsverbot“, denn für etliche, vor allem akademische Berufe, war der Staat oder der öffentliche Dienst der einzige oder hauptsächliche Arbeitgeber.

Hinzu kam ein juristisches Problem: Was sollte geschehen mit Mitgliedern oder Sympathisanten von Parteien, die zwar unter Extremismusverdacht standen, aber nicht verboten waren, wie der DKP oder auf der rechten Seite der NPD? Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1975 brachte darüber keine Klarheit.

Die SPD/FDP-Koalition legte daraufhin einen Reformentwurf zum „Radikalenerlass“ vor: Die Regelanfrage beim Verfassungsschutz sollte entfallen, und solange keine konkreten Anhaltspunkte für das Gegenteil vorlagen, sollten Ämter und Behörden von der Verfassungstreue ihrer Bewerberinnen und Bewerber ausgehen.

Diese Vorlage passierte zwar den Bundestag, scheiterte aber zweimal im Bundesrat, weil die unionsgeführten Länder sie ablehnten. Danach verzichtete die Koalition auf eine bundeseinheitliche Regelung, 1976 entfiel der Extremistenbeschluss von 1972 offiziell ganz. Vor allem die CDU- und CSU-regierten Bundesländer fuhren weiter eine harte Linie, vor allem gegen Links.

Anfang der 1990er Jahre gaben Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern die Überprüfungen auf. Das lag auch an Übersiedlern aus der einstigen DDR. Es war kaum zu rechtfertigen, ehemalige Mitarbeiter ostdeutscher Behörden zu übernehmen, während DKP-Mitglieder außen vor bleiben sollten. (0108/17.01.2021)

Forscher: Diskussion um Hochwasserkatastrophe "moralisch aufgeladen"

Tübingen (epd). Schuldzuweisungen und utopische Weltanschauungen haben nach Ansicht eines Tübinger Forscherteams die Internetdiskussion um die Hochwasserkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Juli 2021 beherrscht. Eine sachliche Diskussion habe kaum stattgefunden, stattdessen sei das Thema in hohem Maße moralisch aufgeladen worden, fanden Olaf Kühne, Professor für Stadt- und Regionalentwicklung an der Universität Tübingen, und sein Team anhand einer Analyse von 1.000 Kommentaren zu einer ZDF-Sendung über die Flutkatastrophe heraus, wie die Universität am Montag mitteilte.

So seien viele Debattenbeiträge von pauschalen Schuldzuweisungen und drastischer Politikerschelte bis hin zu Verschwörungstheorien bestimmt gewesen, denen zufolge die Flutkatastrophe absichtlich herbeigeführt wurde. So seien „die Politiker“ für Flächenversiegelung und Flussbegradigungen verantwortlich gemacht worden oder die Betroffenen selbst, die in gefährdeten Gebieten gebaut hätten. Kritisiert worden seien fehlende Unwetterwarnungen, angeblich leere Hilfsversprechen, die vermeintliche Instrumentalisierung des Themas für den Wahlkampf und die Ausrichtung der Politik auf den Klimawandel.

Wissenschaftliche Erkenntnisse seien nur willkommen, wenn sie die eigene Weltanschauung stützten, ansonsten würden sie als bloße Meinungen abqualifiziert, so Kühne. „Mit Blick auf künftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die im Zuge des Klimawandels und seiner Folgen unvermeidlich sind, stimmen diese Ergebnisse bedenklich.“

Basis der Studie waren Internetdiskussionen, die der 40-minütige ZDF-Beitrag „Das Hochwasser und seine Folgen im Westen Deutschlands“ auf YouTube ausgelöst hatte. Das Tübinger Forschungsteam analysierte 1.000 Zuschauerkommentare, die eine repräsentative Stichprobe aller zu diesem Video veröffentlichten Kommentare bildeten.

Das Hochwasser, das im Juli dieses Jahres große Gebiete in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz heimsuchte, kostete 181 Menschen das Leben, zerstörte zahlreiche Gebäude und richtete massive Schäden an Brücken, Straßen und Eisenbahngleisen an. Die Studie wurde in der Open-Access-Fachzeitschrift „Sustainability“ veröffentlicht. (0112/17.01.2021)

Matthias Rumm wird neuer Landesjugendpfarrer

Stuttgart (epd). Der künftige Landesjugendpfarrer der Evangelischen Landeskirche in Württemberg heißt Matthias Rumm. Er werde sein neues Amt voraussichtlich zum 1. April antreten, teilte die Landeskirche am Montag in Stuttgart mit. Der 46-Jährige folgt auf Pfarrer Bernd Wildermuth, der in den Ruhestand geht.

Rumm hat in Tübingen, Neuchâtel und Heidelberg Theologie studiert. Er war Vikar in Rielingshausen, einem Ortsteil von Marbach, und Pfarrer in Reutlingen. Schon dort war er für die Jugendarbeit der Gesamtkirchengemeinde verantwortlich. Seit 2014 arbeitet Rumm als Stadtjugendpfarrer in Stuttgart. Rumm will, „dass junge Menschen gute Erfahrungen mit Kirche machen“. Dazu brauche es Experimentierfelder und authentische Persönlichkeiten, die den Jugendlichen begegnen. Den Megatrends in der Gesellschaft will sich Rumm gemeinsam mit Partnern in- und außerhalb der Kirchen stellen.

Der Landesjugendpfarrer ist eine Schnittstelle zwischen verfasster Kirche und verbandlicher Jugendarbeit. Er vertritt die landeskirchliche Jugendarbeit in Land und Bund in Gremien und Verbänden. Er begleitet Jugendpfarrer in Ausbildung und Berufspraxis. In der Kirchenleitung ist er für den Bereich Jugend- und Konfirmandenarbeit zuständig. (0113/17.01.2022)

Terrorprozess in der Türkei: Journalistin Mesale Tolu freigesprochen

Istanbul/Ulm (epd). Der Terrorprozess gegen die deutsche Journalistin Mesale Tolu in der Türkei ist am Montag mit einem Freispruch zu Ende gegangen. „Nach 4 Jahren, 8 Monaten und 20 Tagen: Freispruch in beiden Anklagepunkten!“, schrieb Tolu auf Twitter. Der aus Ulm stammenden Journalistin waren „Terrorpropaganda“ und „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ vorgeworfen worden. Auch ihr Ehemann Suat Corlu wurde am Montag freigesprochen, wie der Geschäftsführer von „Reporter ohne Grenzen“, Christian Mihr, twitterte, der als Prozessbeobachter in Istanbul vor Ort war.

Mihr begrüßte die Gerichtsentscheidung. Die Vorwürfe seien von Anfang an haltlos gewesen, und Tolu „hätte niemals die Torturen der monatelangen Untersuchungshaft und die vier Jahre Unsicherheit in einem absurd langen Prozess durchmachen müssen“, erklärte er. Das „Willkürverfahren“ sei „ein weiterer Beweis für die Nicht-Rechtsstaatlichkeit in der Türkei“ gewesen. Auch wenn mittlerweile weniger Medienschaffende in türkischen Gefängnissen säßen als noch vor einigen Jahren, seien „viele durch die harten Auflagen für ihre Haftentlassung zwar nicht mehr physisch hinter Gittern, aber doch geistig eingesperrt“. Deutschland dürfe hier nicht wegschauen.

Tolu erklärte, in einem Rechtsstaat wäre es zu einem solchen Prozess gar nicht erst gekommen. Das Urteil könne die Repressionen und die Zeit in Haft nicht wiedergutmachen.

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Max Lucks bezeichnete den Freispruch als überfällig. Es sei politisch motiviert und menschenrechtswidrig gewesen, „die Journalistin mit haltlosen Vorwürfen gegen ihre Arbeit zu schikanieren“, sagte der Obmann im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der als Prozessbeobachter für den Bundestag in der Türkei vor Ort war. Tolu und Corlu seien dafür verhaftet worden, dass sie ihrer journalistischen Arbeit nachgegangen seien - „ein klarer Verstoß gegen die Pressefreiheit“. Lucks sprach von einem erschreckenden Zeugnis über den Zustand der Justiz und der Pressefreiheit in der Türkei.

Die 37-jährige Tolu war Ende April 2017 in Istanbul festgenommen worden und anschließend mehr als sieben Monate in Haft. Die Journalistin kurdischer Herkunft hatte in Istanbul unter anderen für die Nachrichtenagentur Etha gearbeitet. Der Prozess gegen sie begann im Oktober 2017, rund zwei Monate später wurde Tolu unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Im August 2018 durfte sie nach Aufhebung der Ausreisesperre in ihre Heimat Deutschland zurückkehren.

Im September vergangenen Jahres hatte die türkische Staatsanwaltschaft den Freispruch Tolus beantragt. Die Journalistin sprach damals von einem „politischen Offenbarungseid“, der zeige, dass sich das Verfahren von Anfang an auf bodenlose Vorwürfe gestützt habe.

Aktuell sitzen laut „Reporter ohne Grenzen“ in der Türkei mindestens zehn Medienschaffende im Gefängnis. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht das Land auf Platz 153 von 180 Staaten. Nach Angaben der Bundesregierung befanden sich zum Stichtag 15. Dezember 2021 insgesamt 13 deutsche Staatsangehörige wegen Strafvorwürfen wie dem Vorwurf des Terrorverdachts, der Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation oder der Verbreitung von Propaganda in der Türkei in Haft. (0115/17.01.2022)

Soziales

Asylbewerberzahlen deutlich unter Boomjahren

Stuttgart (epd). Nach Baden-Württemberg kamen im vergangenen Jahr 18.356 Migrantinnen und Migranten. Nach dem Verteilschlüssel des Bundes seien 15.470 für ihr Asylverfahren im Südwesten geblieben, teilte das Justizministerium am Montag in Stuttgart mit. Die Zahl derjenigen Menschen, die hier ankamen, war höher als in den vergangenen beiden Jahren, aber deutlich unter den Zahlen von 2015 bis 2017, als zeitweise Zehntausende Flüchtlinge im Monat nach Deutschland kamen.

Aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie wurde es in den Aufnahmeeinrichtungen dennoch eng. Die Erstaufnahme sei insbesondere im zweiten Halbjahr an die Belastungsgrenzen gebracht worden, hieß es in der Mitteilung. Die vorhandenen Kapazitäten können sowohl wegen der Separierung von Neuankömmlingen als auch aufgrund der allgemeinen Kontaktreduzierung und zur Einhaltung von Mindestabständen nur „mit deutlich weniger Personen als üblich belegt werden“.

Durch die Aufstellung von Wohncontainern wurden 900 zusätzliche Plätze geschaffen. Für das laufende Jahr ist geplant, Containerhäuser in der LEA Freiburg mit rund 240 Plätzen aufzustellen. Außerdem sollen weitere Kapazitäten vorbereitet werden, etwa durch die Sanierung einer Einrichtung in Mannheim.

Die größte Gruppe der Asyl-Erstantragstellenden mit 4.628 Personen kam im vergangenen Jahr den Angaben zufolge aus Syrien. Aus dem Irak kamen 1.780 Personen, aus Afghanistan 1.758 und der Türkei 1.451. Neu in der Spitzengruppe der fünf zugangsstärksten Herkunftsländer sei die Republik Nordmazedonien. Von dort kamen im Jahr 2021 insgesamt 891 Personen als Asyl-Erstantragsteller in Baden-Württemberg an, hieß es in der Mitteilung. (0118/17.01.2022)

Triage-Gesetz: Experten fordern Einbeziehung behinderter Menschen

Hamburg/Karlsruhe (epd). Der Hamburger Rechtsanwalt Oliver Tolmein hat eine schnelle und umfassende Beteiligung behinderter Menschen an einer Gesetzgebung für eine sogenannte Triage gefordert. „Diversität wäre der sicherste Schutz vor Diskriminierung“, sagte Tolmein am Montag bei einer Online-Diskussion des Bremer Landesbehindertenbeauftragten Arne Frankenstein. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte im Dezember entschieden, Menschen mit Behinderung müssten besonders geschützt werden, wenn es bei einer Knappheit an Betten und Personal auf Intensivstationen zu einer Auswahl von Patienten komme (AZ: 1 BvR 1541/20).

Die Verfassungsrichter hatten den Gesetzgeber beauftragt, „unverzüglich“ Vorkehrungen zu treffen, damit behinderte Menschen dabei nicht benachteiligt würden. Nancy Poser, eine der Beschwerdeführerinnen, sagte während der Online-Debatte vor etwa 350 Teilnehmenden aus vielen Teilen Deutschlands, die Politik dürfe sich nicht in erster Linie an die Ärzteschaft wenden. Es gehe in diesem Zusammenhang vor allem um juristische, ethische und soziale Fragen.

Auch Vertreter aus Politik und Verbänden unterstützten die Forderung nach einer intensiven Beteiligung von Menschen mit Behinderungen. Von mehreren Seiten kam die Kritik, dass im Gesetzgebungsprozess noch nicht viel passiert sei. „Ich verstehe nicht, warum die Telefonleitungen nicht heiß laufen“, bemängelte beispielsweise Tolmein. Die Gesetzgebung müsse angesichts steigender Inzidenzen vorrangig angeschoben werden.

Das Verfassungsgericht stellte in seiner Grundsatzentscheidung klar, dass der Staat „wirksame Vorkehrungen“ treffen müsse, damit eine Diskriminierung behinderter Menschen bei der Verteilung „pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen“ verhindert wird. Der Gesetzgeber habe solche Vorkehrungen bislang nicht getroffen.

Anlass des Rechtsstreits waren die zu Beginn der Corona-Pandemie im April 2020 veröffentlichten „klinisch-ethischen Empfehlungen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi). Der Zusammenschluss medizinischer Fachgesellschaften will mit seinen Leitlinien Ärzten Hilfestellung geben, nach welchen Kriterien sie Patienten für eine intensivmedizinische Behandlung bei zu wenig Klinikbetten auswählen können. Neun Beschwerdeführer mit einer Behinderung rügten vor Gericht, dass die Divi-Empfehlungen sie diskriminierten. (0118/17.01.2022)

Mannheimer Vesperkirche sucht Schlafsäcke und Isomatten

Mannheim (epd). Das Organisationsteam der Mannheimer Vesperkirche hat einen Spendenaufruf für Schlafsäcke, Iso-Matten und Handschuhe gestartet. Für Gäste der Vesperkirche, die draußen schlafen, werde die Ausrüstung dringend gebraucht, teilte Pfarrerin Ilka Sobottke am Montag mit. Mit Sorge beobachte sie, dass derzeit Menschen in die Obdachlosigkeit geraten: „Es gibt so viele Gründe, die Menschen ihre Wohnung verlieren lassen. Oft spielen Krankheiten und der Verlust der Arbeitsstelle eine Rolle.“

Spenden können bis zum 6. Februar täglich zwischen 10 und 14 Uhr in der CityKirche Konkordien (R2) in Mannheim abgegeben werden. Bis dahin ist die Mannheimer Vesperkirche geöffnet. Gäste, die die 2G-Plus-Regel erfüllen, können im Kirchenraum ein warmes Mittagessen erhalten. Ergänzend gibt es ein To-Go-Angebot. (0117/17.01.2022)

Handy-Aktion hebt "Schätze aus den Schubladen"

Stuttgart (epd). Die Handy-Aktion Baden-Württemberg geht von 24. bis 28. Januar in der Region Neckar-Alb auf Tour. Es seien Infostände in Bad Urach, Metzingen, Reutlingen, Gammertingen, Hechingen, Balingen und Tübingen geplant, teilte die Handy-Aktion am Montag in Stuttgart mit. Die Tour wird vom regionalen Radiosender Neckaralb Live begleitet.

Außerdem sind Online-Veranstaltungen geplant, zum Beispiel zur Reparatur von Smartphones. An vielen Stellen in der Region Neckar-Alb, unter anderem in Weltläden und Kirchengemeinden, werden alte Handys gesammelt, die bisher ungenutzt in Schubladen liegen. Sie werden dem Recycling zugeführt. Mit dem Erlös der Sammlung werden drei Gesundheits-, Umwelt- und Bildungsprojekte in der Demokratischen Republik Kongo, in Uganda und Äthiopien unterstützt.

Die „Handy-Aktion Baden-Württemberg“ ist eine Aktion verschiedener Organisationen aus Kirche und Zivilgesellschaft sowie der Evangelischen Landeskirchen Baden und Württemberg. Sie ist Kooperationspartner der Nachhaltigkeitsstrategie des Landes Baden-Württemberg und wird vom Umweltministerium unterstützt.

Bis Ende 2021 hat die Handy-Aktion Baden-Württemberg über 140.000 alte Mobiltelefone gesammelt. Sie ist zum Vorbild für andere Bundesländer geworden. Inzwischen gibt es in Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und im Saarland ähnliche Aktionen. Sie arbeiten in einem Netzwerk eng zusammen. (0111/17.01.2022)

Kultur

Farbe als Ahnung von Geheimnissen

Farbmühle Kremer: Pigmente für Kunstmaler wie im Mittelalter

Von Dagmar Hub (epd)

Aichstetten (epd). Die Farbe Blau fasziniert Künstler seit jeher: Blau kann ein Mysterium sein, eine Ahnung des Geheimnisses des unsichtbaren Gottes. Blau kann die Farbe der Poesie sein und des Himmels, der Hoffnung oder des Wassers, das doch nicht blau ist.

David Kremer, Geschäftsführer von Kremer Pigmente im schwäbischen Aichstetten bei Ravensburg, hat sich der Magie der handwerklichen Farbherstellung nach alten Rezepturen verschrieben. Rohstoffe aus aller Welt werden in seiner Farbmühle verarbeitet: etwa 200 Gesteinsarten, Mineralien und Erden, auch Knochen, Muschelschalen und etwa 50 Pflanzen. Daraus entstehen Pigmente für die Farben und Farbnuancen, die Restauratorinnen und Restauratoren, Künstlerinnen und Künstler verarbeiten.

Er zeigt ein simples Beispiel: Ein Pinsel fährt mit industriell hergestelltem Ultramarinblau über einen grauen Untergrund. Vom Untergrund ist fast nichts mehr zu sehen, ein einmaliger Farbauftrag macht alles dicht.

Anders bei Ultramarinblau, das aus pulverisiertem Lapislazuli hergestellt ist: Es wirkt durchscheinend, die Farbschichten sind immer fürs Licht durchlässig und die Leuchtkraft entsteht durch mehrere aufgetragene Schichten. Abhängig von den Einlagerungen im Mineral braucht man ungefähr 100 Gramm des Materials, um vier Gramm Pigmente herzustellen, wie der Sohn des Firmengründers Georg Kremer erzählt.

Was ist überhaupt Farbe? „Eine ungemein komplexe Stoffeigenschaft“, sagt Kremer. Die Partikel industriell hergestellter Farben seien gleichmäßig. Die Partikel in historischen Farben dagegen ungleichmäßig, verschieden groß. Sie haben Kanten, an denen sich das Licht unterschiedlich bricht.

Beispiel Hans Multscher: Geboren um 1400 im Allgäu, einer der renommiertesten Bildhauer und Maler seiner Zeit. Er schuf die im Bildersturm verloren gegangenen Figuren des Karg-Altars im Ulmer Münster. Der Hintergrund und einige Sterne sind erhalten. Man ahnt nur noch die Schönheit, wenn man vor der Nische des zerstörten Altars steht. Die Faszination der alten Farben dauert an.

Kremer lässt die Steinmühle der Firma anlaufen, die ursprünglich eine italienische Ölmühle war. In der Aitracher Manufaktur mahlt sie mit Wasserkraft Brocken weicheren Gesteins wie Azurit zu Pulver. Ganz hellblau sind die Räder vom Azurit. Etwa 100 Kilo der Azuritbrocken werden pro Mahlgang unter den Graniträdern zermahlen. Eine Woche dauert es etwa, bis ganz feines Pulver entsteht. Die aufwendige Arbeit beginnt erst danach - Kalkanteile müssen herausgefiltert werden, und das blaue Pulver wird nach Farbschattierungen sortiert, was insgesamt zwei bis drei Monate in Anspruch nimmt.

Marienglas, ein wasserhaltiges Calciumsulfat, ergibt gemahlen ein Pulver, das bei der Verwendung praktisch transparent wird. Wer denkt, das leuchtende Rot des Rubins ergäbe ähnlich kräftig rote Pigmente, wird schwer enttäuscht: Ein blasses Rosa entsteht, zeigt Kremer. Auch aus dem glänzenden Pyrit wird ein recht graues und glanzloses Pulver, während das seltene Mineral Cavansit leuchtend blaue Farbtöne ergibt.

Vorsicht ist geboten bei der Farbe Gelb: Historische Rezepturen kräftiger Gelbtöne enthalten oft giftige Substanzen, die eine enorme Sorgfalt im Umgang erfordern - sowohl seitens des Künstlers als auch in der Herstellung.

Wie kommt man zu einem solchen Beruf, der auch Berufung sein muss? Sein Vater Georg, erzählt David Kremer, forschte als Chemiker an der Universität Tübingen. Eines Tages habe die Familie beschlossen, samt Großeltern, Bruder und Kindern ins Allgäu zu ziehen: in eine seit 30 Jahren leer stehende, jahrhundertealte Getreidemühle.

Ein befreundeter Restaurator von Georg Kremer suchte nach dem Rezept für die im Barock verwendete und vor mehreren Tausend Jahren in Mesopotamien erfundene blaue Farbe „smalte“ und bat den Chemiker um Hilfe. Dem gelang es, die verlorene Farbe herzustellen. Das war 1977 - das wiedergefundene Blau sollte die Geburtsstunde der Pigmente-Manufaktur werden. (0107/17.01.2022)

Nach Umbau: Donauschwäbisches Zentralmuseum öffnet im April

Ulm (epd). Das Donauschwäbische Zentralmuseum (DZM) in Ulm öffnet nach monatelangem Umbau am 1. April wieder seine Tore. Herzstück des Museums bleibe die Darstellung der Geschichte der Donauschwaben vom ausgehenden 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, teilte das Museum am Montag mit. Die historische Dauerausstellung auf 1.000 Quadratmetern sei aber grundlegend modernisiert worden.

Die Ausstellung „Donauschwaben. Aufbruch und Begegnung“ führe die Besucherinnen und Besucher in die Welt der donauschwäbischen Frauen und Männer, die von Migration und ihrem Leben zwischen Entbehrung und neuen Anfängen erzählen, heißt es. Zeitzeugen berichteten etwa in Video-Interviews von ihren Erlebnissen während der Sowjetzeit in Rumänien, Ungarn und Jugoslawien oder ihrer Auswanderung nach Amerika.

Neu dazugekommen ist eine interaktive und erlebnisorientierte Ausstellung zur Kulturgeschichte der Donau und des Donauraums mit dem Titel „Donau. Flussgeschichten“. Die Donau reicht rund 3.000 Kilometern von der Quelle im Schwarzwald bis zum Schwarzen Meer, im Einzugsbereich der Donau leben heute 100 Millionen Menschen. (0119/17.01.2022)

Vermischtes

Umweltverband startet Fotowettbewerb gegen Artensterben

Stuttgart (epd). Der BUND Baden-Württemberg hat seinen vierten Fotowettbewerb „reiches Baden-Württemberg“ gestartet. Damit will der Naturschutzverband für ein drohendes Artensterben „direkt vor unserer Haustüre“ sensibilisieren, teilte die Landesvorsitzende Sylvia Pilarsky-Grosch am Montag in Stuttgart mit.

Bis zum 30. April können Fotos von Tieren, Pflanzen und Lebensräumen in Baden-Württemberg eingesandt werden. Die Aufnahmen müssen in der Wildnis entstanden sein. Fotos von Haustieren oder Pflanzen aus dem eigenen Garten sind nicht geeignet, erläuterte Pilarsky-Grosch. Die Gewinnerfotos werden am Tag der biologischen Vielfalt (22. Mai 2022) veröffentlicht. (0116/17.01.2022)